Seit 50 Jahren restauriert Eduard Sluk in seiner Werkstatt in Zeutern alte Möbel, direkt darunter führt seine Frau Cornelia seit 30 Jahren das Traditionslokal Weinschlauch. In all den Jahren haben sie viel bewegt, sich dabei aber nie verbogen.
Es soll Menschen geben, die den alten Weinschlauch in Zeutern immer noch nicht kennen, obwohl sie schon seit vielen Jahren hier in der Region leben. Was für ein epochaler Fehler, denn das in einem 1000 Jahre alten Weinkeller unter der Erde gelegene Restaurant gehört zu den schönsten und urigsten Ecken des gesamten Kraichgaus. Tatsächlich verbirgt sich hinter den rebenberankten Mauern der Hausnummer 37 in der Zeuterner Unterdorfstraße eine Welt voller Wunder, ein magischer Ort, der so authentisch und liebevoll gestaltet ist, dass man glaubt, in der Zeit zurückzureisen, sobald sich die schwere Eichentür hinter einem schließt. Wer hier das erste Mal Platz nimmt, braucht sich nicht um angeregte Gespräche mit seinen Tischgenossen zu bemühen; jeder ist erst einmal damit beschäftigt, den Blick durch den halbmondförmigen Raum schweifen zu lassen und all die kleinen und großen Details aufzusaugen, die dieses uralte Gewölbe ausmachen. Der kupferne Kessel unter der Decke, die alten Lichtschächte mit ihren Bleiglasfenstern, die knorrige Treppe zur kleinen Empore, die bunt zusammengewürfelten alten Tische und Stühle, der Fassboden an der Wand, auf dem ein filigran mit weißer Kreide geschriebener Schriftzug die Tagesgerichte anpreist.
Lassen Sie uns später hierher zurückkehren, denn wer die Geschichte des Weinschlauchs kennenlernen will, muss zuerst Eduard Sluk kennenlernen. Eine durch und durch lohnenswerte Erfahrung, denn wer diesem Mann begegnet, weiß sofort, dass er es mit einem echten Unikat zu tun hat. Klare, wache Augen hinter einer markanten Brille, umrahmt von mittlerweile schlohweißem Haar. Kein anbiederndes Smalltalk-Lächeln, sondern vielmehr ein bübisches Grinsen umspielt seinen Mund, aus dem immer genau die Worte fallen, die ihm gerade durch den Kopf gehen, ungefiltert und unverstellt. Kurz gesagt: Man mag ihn auf der Stelle. Eduard Sluk hat eine so echte und schonungslos ehrliche Grundhaltung, dass man sich leicht vorstellen kann, wie sehr er als Neigschmeckter Mitte der Siebziger im durch und durch dörflichen Zeutern angeeckt hat – und das vermutlich auch heute immer noch an der einen oder anderen Stelle tut. Doch das ist alles längst Geschichte, eine Geschichte, die zwischenzeitlich ein halbes Jahrhundert überdauert hat.
Vor 50 Jahren kam Eduard Sluk nach Zeutern, nachdem in seinem Elternhaus in Malsch der Platz für seine Leidenschaft zu eng geworden war. Eduard liebte es, alte Möbel zu beschaffen und wieder herzurichten. Bei ihm bedeutet das nicht einfach nur, kurz mit dem Schleifpapier drüberzugehen und etwas Klarlack aufzutragen, sondern umfasst vielmehr einen intensiven Vorgang, der von einem tiefen Verständnis für die Handwerkskunst längst vergangener Zeiten geprägt ist. Ein Wissen, das er sich teilweise selbst angeeignet hat, insbesondere aber auch durch seinen Mentor, den alten Tischlermeister Otto aus Bad Schönborn, in jahrelanger Zusammenarbeit erlernen durfte. Die beiden hatten sich tatsächlich gesucht und gefunden: zwei schräge Vögel, jeder auf seine eigene Weise, die in ihrer Leidenschaft für die alte Tischlerkunst jahrelang Seite an Seite in Eduards Werkstatt standen.
Die ersten Jahre in Zeutern waren für Eduard eine einfache, aber schöne Zeit. Das alte bäuerliche Anwesen, das er quasi trotz chronisch leerer Taschen damals für 75.000 DM erwerben konnte, versorgte ihn zunächst nur mit dem Allernötigsten. „Es gab zwei Steckdosen und fließendes Wasser, das ich mit einem Topf auf dem Ofen zum Waschen erwärmt habe“, grinst Eduard in seinen Bart, als er sich an diese ersten Tage zurückerinnert. Stück für Stück baute er die alte große Scheune in eine Werkstatt um, erschloss immer mehr ihrer Ebenen, um seine Möbel zu lagern, aber auch auszustellen. Die Ausstellung selbst ist dabei ein echtes Kunstwerk, erinnert an eine Art Museum, denn Eduard hat die Möbel nicht einfach nur zweckdienlich in Reih und Glied aufgestellt, sondern sie in regelrechten Szenen arrangiert, in denen alles bis ins letzte Detail stimmt. Bücher, gerahmte Bilder an der Wand, Kerzenständer, alte Bakelittelefone, Schellackplatten und Röhrenradios erzeugen dabei ein so harmonisches Bild, dass man sich kaum traut, ein Möbelstück per Kauf daraus zu entfernen.
Auf jeden Fall sind die verwinkelten Zimmer, Ecken und Nischen, die Eduard als Präsentationsfläche nutzt, weit mehr als nur Verkaufsräume – sie zeugen auch von Eduards Lebenswerk. An der Decke schwebt beispielsweise das hölzerne Skelett eines Automobils, das Freunde des Technik Museums Sinsheim Speyer sofort wiedererkennen dürften. Museumspräsident Hermann Layher persönlich hat damals den Corpus des röhrenden und flammenspuckenden Boliden „Brutus“ bei Eduard in Auftrag gegeben, doch dessen erste Inkarnation war ihm zu schwer, sodass Eduard eine leichtere Variante davon erschuf, die noch heute alljährlich beim Brazzeltag in Speyer Tausende von Besuchern anzieht.
Anfang der Achtzigerjahre fing Eduards Geschäft an zu florieren. Von Nah und Fern fanden Liebhaber professionell restaurierter Möbelstücke – die jüngsten von ihnen stammen aus den Vierzigerjahren, der Großteil ist allerdings deutlich älter – ihren Weg nach Zeutern. Für manche durchaus ein größerer Ausflug, und so kam Eduard die Idee, anstatt seine Kunden immer in die zwei anderen Dorfgasthöfe zu verweisen, selbst eine Art Vesperstube in seinem alten Gewölbekeller zu errichten. Zusammen mit seinem Vater, einem gelernten Maurer, der ihm auch bereits beim Ausbau der Scheune geholfen hatte, hob er fast anderthalb Meter Erdboden aus dem 1000 Jahre alten Gewölbe aus und vergrößerte den Raum dadurch zusehends. Im Laufe von mehreren Monaten wurde so aus dem dunklen Keller ein gemütliches Lokal, das Eduard – sehr zum Verdruss mancher Dorfbewohner, die einem Auswärtigen die Nutzung des Namens nicht wirklich zugestehen wollten – „Weinschlauch“ taufte.
Für Eduard waren diese ersten Jahre im Weinschlauch äußerst fordernd. Tagsüber die Arbeit in der Werkstatt, der Besuch der Meisterschule und abends, nicht selten bis in die frühen Morgenstunden hinein, Wirt im eigenen Hause. „Das war Selbstmord auf Raten“, merkt er an dieser Stelle seiner Erzählung bissig an und entschloss sich daraufhin, den Weinschlauch zu verpachten. Anders als bei seinen Möbelstücken hatte er dabei kein glückliches Händchen, ein Reinfall folgte auf den nächsten. Sein Freund, der alte Stettfelder Holzhändler Pius Kunz, habe einmal zu ihm gesagt: „Du findest eher einen Tausendmarkschein auf der Straße, als dass du einen guten Pächter findest.“
Ganz richtig lag der alte Pius dabei aber nicht, denn Eduard fand nicht nur eine gute Pächterin, sondern auch eine gute Ehefrau. Als er Anfang der Neunzigerjahre den Weinschlauch erneut zur Pacht ausschrieb, antwortete Cornelia auf die Annonce und stellte sich kurze Zeit später in Zeutern vor. An dieses Treffen kann sie sich noch erinnern wie heute. „Da ging die Tür auf und dieser Rübezahl stand vor mir“, erzählt sie lachend. Das wilde Haupthaar und den buschigen Bart hat Eduard übrigens ein paar Jahre später abrasiert; zwischenzeitlich ist aber alles wieder nachgewachsen, wenngleich mittlerweile auch in mattem Weiß gealtert. Cornelia, Hotelfachfrau und Betriebswirtin, krempelte den alten Weinschlauch komplett um und schuf so Stück für Stück den Ort, den sie vor ihrem inneren Auge schon beim ersten Kennenlernen sehen konnte. Einen gemütlichen Ort für ein fröhliches Miteinander, gute regionale Küche, ein kulturelles Rahmenprogramm von Kleinkunst bis Kabarett. Ihr Weinschlauch ist dabei wirklich alles andere als gewöhnlich, kaum mit anderen Gaststätten im ländlichen Kraichgau vergleichbar. Hier gibt es tschechisches Bier aus Pilsen, Wein vom eigenen Weinberg, spezielle Wochen für spanische Küche mit echten Tapas, französischen Flammkuchen aus dem Elsässer Ofen im rustikalen Biergarten und – wenn auch nur hin und wieder und unter manchen Gästen rege diskutiert – Spezialitäten vom Pferdemetzger.
Die ersten Jahre waren dabei bitter; der Ruf der Vorpächter lastete dem Weinschlauch noch an, doch Stück für Stück besserte sich die Lage – und das in vielerlei Sinne. Zwischen Cornelia und Eduard funkte es spätestens an dessen 50. Geburtstag final und heftig. Übrigens ein Fest, das – ganz Eduard – in Zeutern und der Region einmalig gewesen sein dürfte. Eigens dafür lud er einen Wanderzirkus auf den Sportplatz ein, feierte zusammen mit Freunden und über 100 Gästen hier seinen Geburtstag, kostenlose Sondervorstellung für die Kinder aus dem Ort inklusive. Nur eine von vielen außergewöhnlichen Erinnerungen im bewegten Leben der Familie Sluk.
In diesem Jahr feiern die beiden jeweils große, runde Jubiläen, die sie nicht einfach so verstreichen lassen wollen. Bei Eduard geht es um ein halbes Jahrhundert, fünf Jahrzehnte, in denen er bereits hier in Zeutern alte Möbelstücke restauriert. Ab Ende Oktober will er deshalb für jedes Jahr seines Bestehens einen Prozent Rabatt auf die vorrätigen Möbel in seiner Ausstellung gewähren. Das sind auf gut Deutsch 50 %, was in manchen Fällen tatsächlich einen Nachlass im vierstelligen Bereich bedeutet.
Cornelia wiederum möchte ihr 30. Jahr als Wirtin im Weinschlauch feiern. 1994 ist sie in das kleine Weindorf gezogen, hat sich hier ein Leben, eine Familie und mit dem Weinschlauch auch einen Traum erschaffen. Am 27. Oktober möchte sie deshalb mit ihren Freunden, ihren Gästen und allen, die dabei sein möchten, einen ganz besonderen Tag feiern. Im Weinschlauch gibt es dann hausgemachte Jubiläumsgerichte, Livemusik und wie immer in den letzten drei Jahrzehnten viel Fröhlichkeit und Geselligkeit.
Ach ja, noch ein Jubiläum gäbe es im Haus Sluk in diesen Tagen zu feiern. Den alten, im heiteren Sinne überlieferten Dorfregeln nach, verliert man nach 50 Jahren den Status des Neigschmeckten und wird zu einem Einheimischen. Ob Eduard darauf etwas gibt? Nun, dreimal dürfen Sie raten.