Der Verein Sterneninsel aus Pforzheim hat sich der vermutlich schwersten Aufgabe verschrieben, die man sich nur vorstellen kann: der Begleitung sterbender Kinder.
Gleich vorweg: Noch vor ein paar Jahren hätte ich diesen Artikel nicht schreiben können – nie und nimmer. Der Tod von Kindern ist ein derart schmerzlicher Gedanke – vor allem, wenn man selbst Vater oder Mutter ist –, so schmerzlich, dass man ihn kaum ertragen kann. Mehrere Jahre nachdem meine Tochter auf die Welt gekommen war, konnte ich mir noch nicht einmal Filme ansehen oder Bücher lesen, in denen Kinder zu Schaden kommen. Man kommt einfach nicht umhin, das eigene Gedankenkarussell davon abzuhalten, sich den Tod des eigenen Kindes vor Augen zu führen, und dieser Gedanke – wenngleich er auch abstrakt oder irreal sein mag – ist so schmerzhaft, dass man ihn nicht einmal in seiner Wurzel riskieren möchte.
Ich kann mich noch sehr gut an den Moment erinnern (natürlich kann ich das, er war einer der intensivsten meines Lebens), als ich das erste Mal mein Kind in den Armen hielt – dieses kleine, zerbrechliche Stück neues Leben, dem ich genau in dieser Sekunde bedingungslos mein Herz geschenkt habe. Ein glückstrunkener Moment: die ersten Schritte eines ganz neuen Menschen in ein hoffentlich langes und erfülltes Leben. Und doch ein Moment, der alles andere als selbstverständlich ist. Davon zeugen eindrücklich die Bilder, die an der Wand der Sterneninsel im dritten Stock der Wittelsbacherstraße 18 in Pforzheim hängen. Sie zeigen unter anderem Neugeborene, die nur ein paar wenige Atemzüge tun durften, bevor ihr Leben auch schon wieder zu Ende war. Sie zeigen kleine Gesichter, deren Augen geschlossen sind, deren kleine Hände Kuscheltiere umklammern – Hände, aus denen das Leben längst gewichen ist. Es sind Gesichter von Säuglingen, von Kleinkindern, von Jugendlichen und auch ein paar jungen Erwachsenen, die einem hier entgegenblicken, an jedem einzelnen ein kleiner Stern, auf dem zwei Daten stehen. Einmal das Geburtsdatum und einmal das andere: das Datum, das bei keinem Kind auf dieser Welt stehen sollte, stehen dürfte. Das Datum ihres Todes.
Selbst jetzt, mit einigem zeitlichen Abstand zu meinem Gespräch mit den Verantwortlichen des Vereins Sterneninsel, fällt es mir schwer, hinzusehen und auszuhalten, was hier geleistet wird. Ich kann daher einfach nur den Hut ziehen vor Menschen, die nicht wegsehen, die dort helfen und unterstützen, wo Schmerz und Trauer in ihrer Reinform Einzug gehalten haben, und bleiben bis zum bitteren Ende, das fast immer viel zu früh kommt. „Wir möchten die Familien auf ihrem Weg begleiten. Wir möchten den Weg mit den Betroffenen gehen“, schreibt der Kinder- und Jugendhospizdienst für Pforzheim und den Enzkreis auf seiner Webseite, aber eben auch: „Wir möchten ihren Weg mit aushalten.“
Ja, aushalten müssen die Mitarbeitenden des Vereins vieles. Fast alle Geschichten und Lebenswege, denen sie begegnen, die sie kreuzen, gehen unter die Haut und an die Substanz. Doch noch bevor Klaudia Kreiter-Eyle und Mylène Zorn, hauptamtliche Koordinatorinnen für die Hospiz- und die Trauerbegleitung der Sterneninsel, den Raum betreten, höre ich aus den Büros fröhliches Lachen, ein ganz und gar unverkrampftes Geräusch und einen offenen Umgangston im Team. Der Grund dafür liegt in der Diskrepanz zwischen meiner äußeren Wahrnehmung und der Wahrnehmung der Betroffenen selbst. Ich kann Ihnen sagen: Hier gibt es eine große Kluft. Während ich nur die Traurigkeit und die Schwere des Themas wahrnehme, erleben die Kinder, obwohl sie durchaus wissen, was mit ihnen passiert, ihr Leben in keinster Weise nur in Grautönen. „Mit Kindern zu arbeiten ist so anders als mit Erwachsenen. Diese Ehrlichkeit und Offenheit, die wir mit den Kindern haben, schwankt zwischen traurig, aber auch fröhlich, und das steckt uns an. Diese Kinder bringen uns immer wieder zum Lachen, und das tragen wir dann hier rein“, erzählen beide Frauen, deren unterschiedliche persönliche Biografien sie hierhin und zueinander gebracht haben.
Beide kennen die Geschichte hinter jedem Foto, jedem Stern an der Wand hinter ihnen, und die Leben, die damit verknüpft waren. Es sind viele und doch längst nicht alle, die die Sterneninsel seit der Gründung vor rund 15 Jahren durch die beiden Kinderkrankenschwestern Angelika Miko und Marion Höhnerlage begleitet hat. Der Name geht auf die persönliche Imaginationskraft eines Mitte der Neunzigerjahre unheilbar an einer Muskelerkrankung erkrankten Jungen namens Jonas zurück. Obwohl sich Jonas durch die Krankheit nicht mehr bewegen konnte, erschuf er sich in der kurzen Zeit, die er auf Erden hatte, ein ganz eigenes Bild und eine Vorstellung davon, was mit ihm nach seinem Tod geschieht. Für ihn ist diese Insel ein Ort der Geborgenheit und der Unendlichkeit, und jeder Mensch, der stirbt, wird zu seinem eigenen Stern in diesem friedlich-ewigen Meer. Jonas wurde neun Jahre alt.
Für Klaudia und Mylène geht es nicht darum, die Trauer und die Schwermut zu begleiten oder zu kultivieren, sondern eine Familie in dieser unglaublich schwierigen Phase zu unterstützen und sie auch dazu zu ermutigen, ein Leben zu führen, auch wenn es mit kleinen oder manchmal auch großen Schritten seinem Ende entgegengeht. „Wir klammern die Schwere nicht aus, aber wir wollen das Leben trotzdem feiern“, sagen beide unisono. Es geht also auch ums Spielen, ums Kuscheln, um Nähe, um Liebe und Zuwendung und hier und da auch um letzte kleine und große Wünsche, zum Beispiel den Besuch in einem Freizeitpark oder Ähnliches. Ein offener Umgang ist dabei für die Arbeit der Sterneninsel zentral: Es geht nicht darum, falsche Hoffnungen zu schüren oder zu verleugnen, sondern das Leben so achtsam und intensiv zu leben, zu ehren und auch zu feiern, wie es nur möglich ist. „Im Leben den Familien zur Seite stehen“ – es geht nicht darum, von der Realität abzulenken, sondern schwierige und glückliche Momente gleichermaßen zu integrieren, in etwa so beschreiben die beiden ihren täglichen Auftrag.
Die Arbeit der Sterneninsel schließt nicht nur die Begleitung sterbender Kinder ein, sondern auch die Begleitung solcher Kinder, deren Angehörige ihrem Ende entgegensehen. Es geht aber auch um die Betreuung von Geschwisterkindern, die sich ihrerseits viel zu früh mit dem Thema Tod arrangieren müssen. Die Sterneninsel kann dabei ein Ort der Begegnung sein, ein sicherer Hafen, an dem man über Ängste, Sorgen und die eigenen Gedanken sprechen kann. In einem großen Gruppenraum nebenan haben viele Kinder solche Gedanken verewigt. „Mama, wie geht es dir im Himmel, hast du den Opa getroffen?“ steht in kindlicher Handschrift an eine Tafel geschrieben. Schon das Überfliegen dieser Zeilen zieht mir das Herz zusammen. „Ich hette dir gerne Seil-Springen beigebracht“ lese ich auf einem hölzernen Würfel, mit rotem Wachsmalstift verewigt – der letzte Gruß eines kleinen Mädchens an das gestorbene Geschwisterkind.
Der Tod gehört zum Leben dazu, das wissen wir alle. Genauso wie wir wissen, dass sich das Universum wie eine einzige Fehlkonstruktion anfühlt an jener Stelle, an der Kinder sterben müssen. Und so sehr wir auch wegschauen wollen, so sehr wir den Blick abwenden möchten, so wichtig ist es doch hinzusehen und zu unterstützen. Jene, die dem Tod entgegensehen, aber auch ihre Liebsten, die danebenstehen und nichts tun können, um es zu verhindern. Hier braucht es Mitgefühl, hier braucht es Empathie, hier braucht es Offenheit und Verlässlichkeit. All das leisten die ehrenwerten Menschen, die sich im Verein Sterneninsel engagieren. Nicht nur Hauptamtliche wie Klaudia und Mylène, sondern auch Ehrenamtliche, von denen es gar nicht genug geben kann. Doch einfach so aus dem Stegreif kann niemand ehrenamtlicher Hospizbegleiter werden; hier braucht es eine umfangreiche und intensive Ausbildung, um den erheblichen Anforderungen gerecht zu werden. Allzu leicht kann man in dieser höchst verletzlichen Phase auch vieles falsch machen, daher gilt es, behutsam zu agieren und ebenso behutsam auf eine solche Situation vorbereitet zu werden. Dennoch soll an dieser Stelle jeder ermuntert werden, sich dieser höchst ehrenvollen und wichtigen Aufgabe zu widmen, wenn er sich denn dazu in der Lage sieht. Informationen, wie das geschehen kann, gibt die Sterneninsel sehr gerne. Die Arbeit mit den betroffenen Familien ist vielseitig und individuell aufgestellt. Es gilt, die Familien zu stärken, den Austausch mit den Kindern zu suchen und zu fördern, einen offenen Umgang mit der eigenen Situation ohne Schönfärberei zu ermöglichen, aber auch Trauerarbeit zu leisten, wenn das Unabwendbare Realität wurde.
„Das Leben endet vielleicht früh, aber es kann bis zuletzt wunderschön sein“, sagt Klaudia, und Mylène ergänzt: „Wir sind ein kleines Puzzleteil, aber manchmal ist es genau das, was eine Familie braucht.“ Man kann den beiden und allen, die an ihrer Seite stehen, gar nicht oft genug danken für den unschätzbar wertvollen Dienst, den sie für Menschen in einer solchen Lage, aber auch für unsere Gesellschaft, leisten. Dort, wo ich und sicherlich viele andere den Blick senken mögen, blicken sie mit wachen, sorgsamen, liebevollen und freundlichen Augen auf und bieten ihre Hilfe an. Am Ende bleiben zwar Trauer und Einsamkeit, aber auch das Wissen, dass Menschen einander helfen und unterstützen können. Am Ende bleibt die Erinnerung. Am Ende bleibt die Liebe. Am Ende bleibt ein heller Stern.
Hut ab davor!!!