Die Hexenjagd nach der Hexenjagd

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In Kraichtal und Eppingen wütet der Online-Mob mit Schaum vor den Lefzen

Eine Kolumne von Thomas Gerstner

Lassen Sie uns nicht darüber reden was am Samstag-Abend passiert ist, das wissen Sie schon längst. Überall in der Boulevard-Presse wird über die Hexengruppe berichtet, die auf dem Eppinger Nachtumzug ein Mädchen verbrüht und entstellt hat. Lassen Sie uns kurz darüber reden, was danach geschah. Angestachelt von den reißerischen Berichten der großen Revolverblätter und Magazine zog ein digitaler Mob durch das Netz und ließ mehr Exkremente über der Region niedergehen, als alle Flugzeuge der Welt pro Jahr ablassen. In der Facebook-Gruppe der Eppinger Hexen wurden Beleidigungen, Drohungen, Falschaussagen und Aufrufe zu blanker Gewalt gepostet. Dazu gab es Klarnamen vermeintlich Verantwortlicher zu lesen und die Grenze zur strafbaren Handlung war plötzlich wie weggewischt. Auch der Name der für den Unfall verantwortlichen Hexengruppe machte schnell die Runde, ein Name der allen Besuchern des Nachtumzuges schnell klar sein durfte. Bis auf eine Gruppe aus Kraichtal führte in den letzten Jahren schließlich niemand einen Wasserkessel mit sich. Auch in Kraichtal standen die Telefone nicht mehr still und es wurden Drohungen und Hass-Emails an die mutmaßlich Schuldigen versandt. Im Ton enthemmt und jede Grenze überschreitend wurde wild um sich geschlagen, vielfach von Menschen die wahrscheinlich bis gestern nicht mal wussten wo Eppingen überhaupt liegt.

Es ist menschlich wütend zu werden, gerade wenn dem ein Unfall mit solch bösen Verletzungen vorausgeht… aber wie ein wild gewordener Lynchmob durchs Netz zu rasen, resistent gegen jede Art von Fakten, das erinnert mehr an eine Wolfsmeute als an zivilisierte Menschen. Ja, die Hexen aus Kraichtal haben richtig Scheiße gebaut und werden auf den dafür vorgesehenen Wegen zur Rechenschaft gezogen. Dafür gibt es die Polizei und die Justiz, sie allein benennen Schuldige und sprechen Urteile aus, sonst niemand.

Was die Meute so wütend macht, ist die vermeintliche Tatsache dass die Hexen das Mädchen absichtlich verbrannt und danach an der Straße zurückgelassen haben. Vielleicht war das so, vielleicht aber auch nicht. Ganz ehrlich, das ist doch schwer zu glauben. Lasst uns kurz beschreiben, wie es ist auf dem Eppinger Nachtumzug unterwegs zu sein. Seit vier Jahren berichten wir von dort in Bildern und Tönen. Es ist dunkel, es ist ohrenbetäubend laut, überall wird gekreischt und geschrien, die Luft ist schwanger mit Rauch, bengalischen Feuern und die Musik von den Wägen und Instrumenten bildet eine wirre Kakofonie. Wenn dann noch eine hölzerne Maske mit einem sehr eingeschränkten Blickfeld auf dem Gesicht sitzt, kommen aus diesem wilden Mix nur bedingt verwertbare Sinneseindrücke bei ihrem Träger an. Vielleicht könnt ihr zumindest versuchen Euch vorzustellen, dass in so einem schrillen Chaos ein Unfall wie er geschehen ist. möglicherweise auch geschehen kann.

Entschuldigt das den Vorfall? Nein, natürlich nicht! Es hätte niemals ein Wagen mit heißem Wasser durch die Gassen gezogen werden dürfen!!! Man stelle sich nur vor, das Ding kippt um und verteilt seinen heißen Inhalt auf an der Straße stehende Kinder…. Ein Albtraum! Heißes Wasser, Pyrotechnik und Feuer haben auf einem Umzug nichts zu suchen. Punkt! Ihr könnt sicher sein: Falls es zu einer weiteren Ausgabe des Nachtumzuges kommen sollte, (und das darf aufrichtig bezweifelt werden), wird niemals mehr Wasser oder Feuer genehmigt werden. Es hätte auch niemals genehmigt werden dürfen! Das war sowohl vom Veranstalter als auch von der Hexengruppe ein fataler Fehler – ein Fehler den eine Unschuldige bezahlen musste!

Doch glaubt ihr wirklich die Kraichtaler Hexen sind gefühlskalte Soziopathen, die sich ein Mädchen packen, absichtlich schwer verletzen, es am Straßenrand aussetzen und fröhlich weiterfeiern? Wohl kaum! Es sind Menschen, denen ein riesiger Fehler passiert ist und aufgrund der oben geschilderten Umstände ist es auch durchaus vorstellbar dass sie gar nicht genau sagen können, wem die ultimative Scheiße eigentlich passiert ist. Vielleicht sind sie auch deshalb weiter gezogen, weil sie den Ernst der Situation nicht begriffen oder verinnerlicht hatten? Eine abschließende Antwort oder gar mit der ultimativen Wahrheit können wir an dieser Stelle nicht dienen…. Ihr aber auch nicht!

Bis die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hat, sollte also niemand mit dem Finger auf irgendwen zeigen und die Steinigung ausgesetzt werden. Auch wenn der wütende Mob immer einen Schuldigen braucht, lasst Euch nicht mitreißen, bleibt besonnen, bleibt cool. Früher hat man Hexen einfach verbrannt, heute – 500 Jahre später – sollten wir es doch besser wissen.

Wir wünschen der verletzten jungen Frau alles erdenklich Gute und so viel Heilung wie irgend möglich. Ihr ist etwas furchtbares zugestoßen, etwas das niemals hätte passieren dürfen! Wo Menschen sich begegnen, da geschehen auch Unfälle! Unfälle ziehen nichts als Leid nach sich. Dieses Leid kann durch die Zeit, durch Liebe und Geduld geheilt werden, niemals aber durch blinden Hass, Wut und Verbitterung.

So long

Euer Tommy

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