Nylonfaserwerk 2.0 – In einer kleinen Östringer Lagerhalle erweckt Walter Rothermel ein Stück europäischer Industriegeschichte wieder zum Leben
Mit zufriedenem Lächeln sitzt er in seinem alten Drehstuhl, die Hand fast zärtlich auf eine riesige Rolle Nylongarn gelegt. Die kurzgeschorene Haare und der kleine, filigrane Clark Gable Schnurrbart sind längst schlohweiß. Mit fast 80 Jahren ist Walter Rothermel an seinen alten Arbeitsplatz zurückgekehrt – Eine Welt in der er Jahrzehnte geschaltet und gewirkt hat und die bereits vor langer Zeit restlos von der Bildfläche verschwunden ist.
Den wesentlichen Teil seiner beruflichen Karriere hat Walter Rothermel im Nylonfaserwerk Östringen verbracht, seinerzeit das größte Werk dieser Art in ganz Europa. Die alten Aufnahmen an der Wand, zeigen die Dimensionen dieses einstigen Giganten. Über viele Fußballfelder hinweg erstreckten sich die Produktionshallen, neben denen sich die vielen Nebengebäude wie Spielzeuge ausnahmen. 1963 wurde die Anlage vom britischen Chemie-Riesen ICI errichtet, zu jener Zeit eines der größten Chemieunternehmen der Welt. In der damals für über 400 Millionen D-Mark erbauten, modernen Fabrikanlage, schmolz ICI Polymer Granulate ein und spann daraus feine Chemiefasern, besser bekannt als Nylon. Strumpfhosen, Hemden, Sportbekleidung – alltägliche Produkte aus Nylon entstammten damals mit einiger Wahrscheinlichkeit aus Östringen.
Walter Rothermel arbeitete sich damals als junger Mann bis ins Management des Faserwerks in seinem Heimatort Östringen nach oben. Er erlebte den Aufstieg, die goldenen Jahre und den Fall der milliardenschweren Branche aus nächster Nähe mit. 30 Jahre nach der Gründung, verkaufte ICI die Anlage an den einstigen amerikanischen Marktführer DuPont aus Wilmington, der trotz bereits zu dieser Zeit verhaltener Prognosen einen dreistelligen Millionenbetrag in das Östringer Werk investierte um dessen Kapazitäten zu erhöhen. Weit über 100.000 Tonnen Textilfasern stieß das Nylonfaserwerk so Jahr für Jahr bis zur Schließung aus.
Aufstieg und Fall
Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends sank der Stern des Nylonfaserwerkes Östringen immer weiter um schließlich mit lautem Getöse auf dem Boden aufzuschlagen. 2004 gliedert DuPont seine Nylon-Sparte unter dem Namen Invista aus und verkauft sie an den Mitbewerber Koch aus Wichita in Kansas. Vier Jahre später verkaufte widerum Koch an die israelitische Firma Nilit und vermietet für die Produktion seine Östringer Räumlichkeiten an das Unternehmen mit Hauptsitz nördlich des Westjordanlandes.
Silvester 2010 wickelt Invista schließlich doch die in Östringen verbliebene Produktion von Teppichgarnen und Stapelfasern ab. Obgleich man den Mitarbeitern noch im selben Jahr eine Ausweitung der Produktion in Aussicht gestellt hatte, kam das Ende dann überraschend und schmerzhaft zugleich. Trotz freiwilligen Lohnverzichts und Kurzarbeit seitens der Belegschaft, wurde das Werk quasi über Nacht geschlossen. Nicht ohne Widerstand – für eine damit einhergehende Kundgebung, hatte sich sogar der damalige baden-württembergische Innenminister angekündigt. Zwei Jahre später gingen dann auch 2012 die Lichter bei Nilit aus und als die letzten Mitarbeiter das Nylonfaserwerk verließen, endete zugleich auch die Geschichte der Östringer Nylonfaser – nach knapp einem halben Jahrhundert.
Auch wenn die letzten Jahre alles andere als ruhmreich über die Bühne gingen, erinnert sich Walter Rothermel aber dennoch gerne zurück an die goldene Zeit seines Nylonfaserwerkes. Über 30 Jahre wurde hier immerhin Industriegeschichte geschrieben – ein Kapitel von dem Walter Rothermel gerne berichten und an das er nachfolgende Generationen erinnern möchte. Einen Teil des Inventars, Büromöbel, Maschinen, Dokumente und vieles mehr, hat Walter Rothermel über all die Jahre hinweg erhalten können und in wechselnden Lagern vor der Vernichtung und dem Vergessen bewahrt.
Nun endlich hat er – unterstützt durch die Stadt Östringen – in der Gartenstraße eine neue Bleibe für die Überreste des Östringer Nylonfaserwerkes gefunden. In einem Teil der Lagerhallen eines ehemaligen Elektro-Betriebes, hat Walter in mühseliger Kleinarbeit die Kulisse seines einstigen beruflichen Alltag wieder errichtet und dabei auf jedes Detail geachtet. Die Intensität und das Erlebnis eines Besuches hier, ist wahrlich schwer zu beschreiben. Es ist bei weitem nicht nur eine Ausstellung, auch kein Gang durch ein distanziertes und künstlich konstruiertes Museum… Walter Rothermel hat es tatsächlich geschafft, das alte Nylonfaserwerk in Teilen zu rekonstruieren und damit eine Welt geschaffen, die es eigentlich schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gibt.
Hier finden sich Teile der Fertigungsanlagen, Büroräume mit alten, vergilbten Computer, schweren Schreibmaschinen und unzähligen Aktenordnern, eine Forschungsabteilung mit in die Jahre gekommenen Mikroskopen und sogar ein paar weiße Kittel hängen in Reih und Glied an der Wand. Einen davon trägt Walter Rothermel für das Titelbild dieser Geschichte, auf der Brust das Logo des auch schon lange nicht mehr existierenden Unternehmens DuPont. Lieber hätte er einen Kittel mit dem ICI-Emblem getragen – jener Firma die das Faserwerk aus der Taufe hob, stellvertretend für die goldenen Jahre Östringer Industriegeschichte stand und vielleicht auch ein Stück weit für die goldenen Jahre von Walter selbst. In der Gartenstraße Nummer 8 sollen sie noch einmal lebendig werden – die großen Tage der Nylonfaser. Dafür will Walter sorgen und wer diesen Mann kennt, mit seiner Kraft und seiner Ausdauer, der zweifelt nicht daran, dass er das auch schaffen wird.
Das ist eine tolle private Initiative. Auch für mich gehört die ICI Östringen zu meinem erlebten, zu meiner Biographie. Kann man diese Einrichtung besichtigen? Gibt es da schon konkrete Pläne?
Ja, zu besonderen Anlässen kann man die Ausstellung besichtigen und Fragen stellen. Wir veröffentlichen die Termine, sobald verfügbar, in unserem Terminkalender
Habe in der ICI meine Ausbildung als Technische Zeicherin im Jahr 1975- Februar 1979 gemacht. War eine sehr schöne Zeit. Kann mich noch sehr gut daran erinnen.
Das Nylon Archiv wurde mit dem Einzug in der Gartenstraße 8/1 in Östringen eine weitere Zweigstelle des Heimatmuseums Östringen. Siehe: http://www.museum-oestringen.de
Der Freundeskreis Heimatmuseum Östringen unter Leitung von Frau Gabriele Offner betreut auch diese neue Zweigstelle. Der Freundeskreis ist kein Verein, hat keine Satzung und keinerlei Statuten. Eine Mitgliedschaft gibt es nicht. Jeder wählt selbst, in welchem Sachgebiet er mitarbeitet, wie viel Zeit er aufbringt und wann er seine Mitarbeit beendet.
Derzeit bildet sich ein Team innerhalb des Freundeskreises, das sich mit der Aufarbeitung der Nylon Unterlagen und den Exponaten beschäftigt.
Interessierte die mitarbeiten möchten, können sich bei Christoph Wohlfahrth unter cwohlfarth@web.de oder 0171 563 9024 melden. Nach terminlicher Abstimmung ist ein Treffen / Besichtigung möglich.