Es lebe die goldene Ära des allmächtigen Ich
Eine Kolumne von Thomas Gerstner
Ich würde mich nicht gerade als brennenden Patrioten bezeichnen. Bei meiner Musterung in einem Land vor unserer Zeit, als die Anzahl der bis Mitternacht frei empfangbaren Programme exakt drei betrug und das Internet irgendeine Hobby-Bastelei in den Kellerräumen der Informatik-Fakultäten war, habe ich mich absichtlich derart blöd angestellt um am Ende mit dem heiß ersehnten Prädikat T5 auf die Straße zu treten. Um mich für sie im Kugelhagel niedermähen zu lassen, reicht die Liebe zur guten alten Bundesrepublik nicht aus, wohl aber um in hysterisches Schluchzen auszubrechen, wenn die selbsternannten Freiheitskämpfer und Patrioten der Querdenker und Querdichter neuerdings ihr geistig-verbales Erbrochenes absondern. Wenn ich sehen muss, wie tausende Egoisten und Narzissten in Personalunion auf die Straße gehen und sich als Widerstandskämpfer im Geiste einer weißen Rose gegen ein vermeintliches Ermächtigungsgesetz auflehnen oder ihre Kinder die Kontaktbeschränkungen frank und frei mit dem tödlich endenden Versteckspiel einer Anne Frank gleichsetzen lassen, weine sogar ich alter Misanthrop – gebeugt vor Fremdscham und Weltenschmerz – so manche bittere Träne.
Was sind das für Menschen, die offenkundig zu Tausenden unter uns leben? Ich versuche mich an einer Einschätzung deren Selbstbild. Das erste Mal stoßen die sich bis dato ungebremst ausbreitenden Wellenbewegungen ihrer Egozentrik auf ein paar Felsen im endlosen Ozean ihrer Weltenscheibe, die sich nicht um die Sonne, sondern nur um sie selbst dreht. Das erste Mal ist etwas anders in ihrem Leben und wirft ihnen Stöcke in die ausgetretenen Pfade ihres Alltages. Das erste Mal wäre es an Ihnen etwas zu geben, anstatt immer nur zu nehmen. Doch weil aus einem kleinen, selten ein großer Geist wird und ein Vollhonk eben immer ein Vollhonk bleibt, begreifen sie jegliche Veränderung des Gewohnten als Bedrohung und suhlen sich selbstverliebt in Ablehnung und Herabwürdigung anderer. Neben ihrer Meinung gibt es nur falsche, wer sich dem Meer ihrer schrill-hysterischen Kakophonie entgegenstellt, wird als Schlafschaf oder Systemhure diskreditiert. Sie leben all jene Freiheiten, deren Verlust sie paradox und wortstark beklagen.
Wirklich verwundern mag der Siegeszug des Homo Covidiotus und seinen Artverwandten nicht. Was haben uns noch gleich Konsumgesellschaft, “soziale” Netzwerke und die Medien in den letzten Jahrzehnten eingebläut? Ganz genau: Du, ja genau Du, bist der allergeilste. Kauf dir stapelweise T-Shirts für 1,99, an dem förmlich noch der Angstschweiß der Kinderarbeiter klebt, kauf dir Nackensteaks für 75 Cent das Stück, für das eine arme Kreatur in Schande geboren und gestorben ist und rotze im Netz den erstbesten Hirnfurz unter absolut jedes Thema – wir werden Dich dafür feiern. Selig sind die Sanftmütigen, so heißt es doch so schön? Am Arsch, meine Freunde. Schaut euch die Skandale der letzten Jahre an, welche Personalien es weltweit in führende Positionen geschafft haben. Selig sind die Skrupellosen – Nur wer täglich einmal auf sein eigenes Selfie masturbiert, hat in der Ära des Allmächtigen Ich eine Chance auf Ruhm und Wohlstand.
Was mich an der ganzen Scheiße derart stört, ist die kommunikative Kapitulation jener, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Wir überlassen den Krakelern nach dem Netz nun auch die Straße und erlauben ihnen mit ihren widerwärtigen Vergleichen sogar die Verunglimpfung der Opfer des ebenso widerwärtigen NS-Regimes. Boah, Freunde, 2020 schafft mich. Dieses verdammte Jahr der unausweichlichen Ungerechtigkeit.
Was wir tun können um schadlos durch diese schwere Zeit zu kommen? Nichts, no way meine comprades. Egal was wir im Kampf gegen die Horden unter Captain Covid unternehmen, irgendjemand wird immer leiden und auf der Strecke bleiben. Egal an welcher Stellschraube wir drehen, es kommt todsicher jemand unter die Räder. Das ist ein veritables, riesengroßes und beschissenes Kackorama erster Güte.
Was wir tun können um möglichst zielstrebig durch diesen Sumpf zu waten? Ein bisschen mehr zusammenrücken, ein bisschen mehr zusammenhalten, ein bisschen weniger um das eigene “Ich” wie die Motten ums Licht kreisen und stattdessen das “Wir” lieben lernen. Denkt doch einfach mal ganz kurz an sie: Eure Nachbarn, die Vereinskameraden, die Kollegen von der Arbeit, an all die vielen Gesichter, die euch im Laufe eures Tages begegnen. Denkt an deren Kinder, an ihre Geschwister, an ihre Mütter, Väter und Großeltern. Wäre doch irgendwie super wenn wir uns im Sommer alle wohlbehalten, eng nebeneinander sitzend mit einem Bier zuprosten und auf den größten Scheiß-Winter seit Jahrzehnten anstoßen könnten – wohl wissend dass wir diesen Rotz gemeinsam ausgestanden haben. Ja, wir leben in einer Zeit, in der ein Einzelner viel reißen kann, niemals aber so viel wie viele zusammen.
Nachtrag vom 27.11.2020
Liebe Leser, bevor wir in ein weiteres ereignis- und trostloses Wochenende – von denen es in diesem Jahr definitiv zu viele gegeben hat – starten werden, hier noch ein kurzes Wort in eigener Sache. Der vermeintliche Kampf um die Deutungshoheit über das allgegenwärtige Thema “Corona”, hat in dieser Woche für uns einen fragwürdigen Höhepunkt erreicht. Nach der letzten Kolumne unseres liebenswerten aber bekanntermaßen auch sehr streitbaren Tommy G, hat uns eine Welle aus Hass, Beschimpfungen und weißglühender Wut überrollt.
Ja, über das Thema “Corona”, den Umgang der Medien und der Politik damit, sowie über die vielen Kollateralschäden, lässt sich vortrefflich streiten und unterschiedlicher Meinung sein – da sind wir ganz bei euch. Wenn aber die subjektive Meinung (und nichts anderes ist die Kolumne von Thomas Gerstner) zu Einschüchterungsversuchen und Drohungen unserer Redaktion gegenüber führt, wenn wir mit nicht enden wollenden Anrufen bombardiert werden, die unseren redaktionellen Betrieb unmöglich machen und nur mit einer Rufnummernsperre durch den Provider beendet werden können, dann ist hier eine Linie überschritten.
Ihr seid mit den derzeit geltenden Regelungen nicht einverstanden? Fein, kein Thema in einer Demokratie. Der gute alte Artikel numero 5 räumt euch das Recht ein eure Meinung frei von der Leber weg kundzutun. Er räumt aber auch allen anderen das Recht ein, hierzu mit ebenso deutlicher Gegenrede Stellung zu beziehen – das habt ihr zu akzeptieren und hinzunehmen! Für uns wie für euch gilt: If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.
Wir wissen durchaus dass es bei den Meinungen zum Thema Corona eine große Bandbreite gibt und Pauschalisierung niemals niemandem dienlich ist. Diese Bandbreite beginnt bei absolut legitimer Kritik an offenkundigen Widersprüchen, reicht neuerdings aber auch bis zu völlig inakzeptablen Vergleichen mit dem Holocaust oder dem Widerstand gegen das NS-Regime. Genau an die Vertreter dieser Gangart – und nur an diese – richten sich diese Zeilen und besagte Kolumne, wenn das nicht ausreichend deutlich wurde, Asche auf Tommys Schädel und mea culpa von uns allen. Wer sich aber einen stilisierten Judenstern mit Worten wie “Ungeimpft” auf den Ärmel pappt, hat nach unserer Weltanschauung jedes Maß verloren und unserer Überzeugung nach auch jegliches Recht auf Teilnahme an einer Diskussion auf Augenhöhe.
Lasst uns doch vielmehr auf den Teppich und in den Sitzkreis zurückkehren. Lasst uns streiten, bruddeln, diskutieren… Lasst lauten Tönen nicht immer noch lautere, sondern auch manchmal wieder leisere Töne folgen…. Lasst uns fair aber leidenschaftlich brennen…. Mit dieser Art von Hitze kommen wir wohlbehalten durch den vor uns liegenden, kalten Winter und wer weiß….vielleicht noch viel weiter.
Eure Redaktion