„Wir haben ein total verrücktes Verhältnis zum Alkohol”

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Seit 50 Jahren kämpft man in den Kraichtal Kliniken gegen die zerstörerischen Folgen einer Alkoholerkrankung. Nicht selten ist es ein Kampf gegen Windmühlen.

Von Stephan Gilliar

„Johnny Walker, du hast mich nie enttäuscht, Johnny – du bist mein bester Freund.“ Heilands Sack, was haben wir diesen Song während meiner Jugend gegrölt… lautstark und unmelodisch mitgesungen, wenn er aus irgendeinem billigen Universum-Ghettoblaster durch ein Vereinsheim unserer Sturm-und-Drang-Zeit dröhnte. Marius ging immer, und ein Bier im Stiefelglas auch. Es ist schon erschreckend, welch unbeirrbare und omnipräsente Konstante Alkohol in unserem Leben ist, wenn man einmal ehrlich darüber nachdenkt. Kommen Sie schon… Scheuklappen runter und kurz und erbarmungslos Bilanz gezogen. Fangen wir ganz vorne an… Bei diesem Onkel, den wir alle hatten, der uns beim Familienfest verschwörerisch an seinem Bier nippen lässt und uns das Gefühl gibt, als wäre das der ultimative Aufnahmeritus in eine eingeschworene Gruppe Auserwählter, der wir ab sofort angehören wollen… müssen. Dann das Landschulheim und irgendjemand, der uns Bier aus dem Supermarkt organisiert, ein paar Klopfer nach dem Training, der geklaute Schnaps auf irgendeiner Geburtstagsfete. Der erste Suff, der zweite, der dritte… Zahlen, die irgendwann keine Rolle mehr spielen und im niemals abreißenden Mahlstrom der Erinnerungen verschwimmen. Doch die Welle aus Bier, Wein und Fusel reißt nicht ab, trägt uns hinein in die Volljährigkeit, begleitet uns bis ans Ende – ob es nun süß oder bitter sein mag. Sekt zum Geburtstag, Schampus auf der Weihnachtsfeier, Bier zum Feierabend, Schnaps nach dem Essen, Weißwein im Sommer, Glühwein im Winter. Jede Woche schlägt der Bürgermeister ein anderes Fass an, der Bundeskanzler trinkt grinsend sein Pils, der Ministerpräsident hebt johlend seine Maß… wir haken uns unter, schunkeln vergnügt und singen: „Johnny Walker, du hast mich nie enttäuscht, Johnny – du bist mein bester Freund.“

Okay, Schluss, das reicht, ich glaube, wir wissen, worauf es hinausläuft. Lasst uns schnell wieder wegschauen und vergessen, dass wir kaum noch in der Lage sind, ein besonderes Ereignis, einen Feiertag, ein Wochenende… ach verdammt – noch nicht einmal einen x-beliebigen Feierabend ohne die eine oder andere Umdrehung im Glas zu überstehen, uns das noch nicht einmal vorstellen können. Johnnys Gesicht blickt uns überall entgegen, aus Zeitschriften, im Fernsehen, im Kino, von Plakatwänden… it’s not a man’s world, it’s Johnny’s world. Wir können uns eine Welt ohne Johnny und seine Truppe kaum noch vorstellen, reagieren schmallippig, wenn uns die Wissenschaft ganz wertfrei darauf hinweist, dass kein Alkohol besser ist als Alkohol, dass selbst ein kleines bisschen Alkohol nicht gut ist, nicht einmal ein klitzekleines bisschen.

Ja, das alles wissen wir im Grunde ganz genau und dennoch wäre diese Welt ohne Alkohol irgendwie auch trostlos, oder nicht? Alkohol macht eben auch Spaß, es ist schön, ein bisschen Wärme durch den Körper strömen zu spüren, sich ein bisschen von all den Problemen abzukapseln, sich einmal eine Zeit lang nicht mehr vollumfänglich spüren zu müssen. Wer es schafft, Alkohol in Maßen zu genießen, darf sich glücklich schätzen, doch – und das ist die ungeschminkte Wahrheit – längst nicht alle von uns schaffen das. „Es ist schwer, genau zu sagen, wann jemand alkoholkrank ist, und es ist schwer, sich das einzugestehen“, weiß Dr. med. Sven Seilkopf, Chefarzt der Kraichtal Kliniken und Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Sozialmedizin und Suchtmedizin. Seit vielen Jahren behandelt er jene Menschen, deren Leben der Alkohol zuvor an fast allen Fronten und auf allen Ebenen mehr oder minder ausgelöscht hat. „Wir haben ein total verrücktes Verhältnis zum Alkohol“, sagt er und schenkt statt einem Glas Wodka ein paar klare Zahlen ein. Etwa 9 Millionen Menschen mit problematischem Alkoholkonsum gibt es in Deutschland, das entspricht etwa jedem achten Bundesbürger. Doch so hoch diese Zahl auch wirken mag, in Wirklichkeit ist sie noch viel höher. Denn hinter jeder Alkoholerkrankung stehen weitere Menschen, die oft still, heimlich und leise darunter leiden… Ehepartner, Kinder, Freunde. Die Kraichtal Kliniken bieten den Erkrankten Hilfe an, versuchen sie aus der Sucht zu lösen und ihnen wieder auf die Beine und zurück in ein Leben zu helfen, das es wert ist, gelebt zu werden. Viele Patienten, die hier am Rande von Münzesheim erstmals ankommen, haben zuvor einen tiefen, tiefen Fall erlebt. Nicht selten sind Job und Familie bereits verloren gegangen, Freunde haben sich abgewandt… Eine Alkoholerkrankung beginnt schleichend, die Sucht übernimmt in immer mehr Bereichen des Lebens die Kontrolle… meist wird das Problem erst dann erkannt, wenn vieles schon zu Bruch gegangen ist.

Daniel Nakhla und Dr. Sven Seilkopf

Der Bedarf an Therapieeinrichtungen ist immens. Die Fachklinik in Münzesheim, neben ihrer später dazugekommenen Außenstelle in Oberacker, existiert mittlerweile seit über 50 Jahren, die Wurzeln reichen sogar noch deutlich tiefer. Getragen werden die Kraichtal Kliniken als Teil der Suchtkrankenhilfe durch die Evangelische Stadtmission Heidelberg. Die Gründung einer ersten Suchtbehandlungsstätte in Heidelberg begann schon 1957, als ein Mitarbeiter des Diakonischen Werks der Evangelischen Landeskirche in Baden auf Bitten der Evangelischen Stadtmission Sprechstunden für Suchtkranke abhielt. 1958 wurde ein Diakon als hauptamtlicher Mitarbeiter eingestellt, der bald erkannte, dass die erfolgreiche Behandlung von Süchtigen in offenen Einrichtungen erfolgen muss. Die wachsende Nachfrage machte den Mangel an geeigneten Behandlungsplätzen deutlich. Die Evangelische Stadtmission Heidelberg entschloss sich daher, eine solche Einrichtung zu schaffen, da andere evangelische Träger dies nicht planten. Mit Unterstützung der Evangelischen Pflege Schönau wurde 1971 ein geeignetes Gelände in Münzesheim gefunden, und nach Abschluss des Flurbereinigungsverfahrens begann im Oktober 1971 der Bau. Der Grundstein wurde im Juni 1972 gelegt, und im Oktober desselben Jahres fand das Richtfest statt. Bereits im Juni 1973 konnte die Einrichtung die ersten Patienten aufnehmen. Dank der Unterstützung vieler wohlwollender Menschen wurde das Projekt ohne größere Probleme abgeschlossen. Heute sind die Kraichtal Kliniken, ein Teil der Stadt, genießen ein hohes Ansehen in der Bevölkerung, sind hier seit Langem anerkannt. Vielleicht, weil viele Menschen genau wissen, wenn vielleicht auch nur unterbewusst, dass die Aufgabe der Kliniken immens wichtig ist. Seit 1968 ist Alkoholsucht als Erkrankung anerkannt, das Wissen um die problematische Beziehung zwischen Mensch und Alkohol ist allerdings schon Jahrtausende alt und so kann man mit Fug und Recht davon ausgehen, dass dieses Spannungsfeld auch in Zukunft existieren wird. Dennoch erreichen Therapieangebote wie die, die Dr. Seilkopf und sein Team hier in Kraichtal anbieten, nur einen deprimierend kleinen Teil der Betroffenen. „Wir erreichen nur rund 10 Prozent“, bringt der Chefarzt das Dilemma auf den Punkt.

Die Kraichtal Kliniken werden, anders als viele gewinnorientiert ausgerichtete Häuser, ausschließlich als gemeinnützige Einrichtung geführt. Über 100 Betten und damit Therapieplätze gibt es hier, die Patientinnen und Patienten werden in Gruppen betreut und Stück für Stück wieder an einen Alltag herangeführt, der für sie lange Zeit mehr oder minder unmöglich war. Drei bis vier Monate dauert eine Therapie im Schnitt, erzählt Daniel Nakhla, Psychologischer Psychotherapeut hier in Münzesheim. „Wir simulieren hier eine Art von Alltag, jeder ist für sein Zimmer selbst verantwortlich. Es gibt insbesondere am Anfang der Therapie einen gut gefüllten Tagesplan“, führt Daniel Nakhla aus. „Unser ganzheitliches Konzept sieht den therapeutischen Ansatz quasi überall. Nicht nur im Gespräch mit uns Psychologen oder den Sozialpädagogen, sondern eben auch in der Arbeitstherapie.“ Letzterer kommt in Münzesheim und Oberacker eine besondere Bedeutung zu, denn das Gefühl, wirklich wieder etwas bewegen und bewirken zu können, kann in seiner Bedeutung für die Menschen hier kaum hoch genug eingeordnet werden. Schillerndes und bestes Beispiel für diese Erfolge ist die Errichtung des asiatischen Gartens, der über Jahre hinweg immer weiter gewachsen ist, ausschließlich und komplett gestaltet von Patienten und Mitarbeitern der Kraichtal Kliniken. Es ist nicht das einzige bemerkenswerte Projekt hier! Auch die Klinik-Band, bestehend aus Mitarbeitern und Patienten, selbstironisch und augenzwinkernd auf den Namen „Los Promillos“ getauft, genießt seit Jahrzehnten Kultstatus in der Region.

Alkohol ist übrigens bei weitem nicht die einzige Sucht-Thematik, die an den Kraichtal Kliniken behandelt wird. Den reinen, klassischen und ausschließlichen Alkoholiker gibt es sowieso kaum noch, erklärt Daniel. Mischformen sind stattdessen immer häufiger anzutreffen. Das bedeutet, viele Menschen sind nach mehreren Dingen gleichzeitig süchtig, zum Alkohol kommt so oft Drogenkonsum oder Glücksspiel hinzu. Für die Therapie dieser letztgenannten Sparte ist Münzesheim übrigens deutschlandweit zum Aushängeschild geworden. Die Ansätze zur Behandlung von Glücksspielsucht wurden hier maßgeblich vorangetrieben und weiterentwickelt.

Der erste Schritt, um hier in Kraichtal Hilfe zu erhalten, ist ein knallhartes Stück Selbsterkenntnis: Sich selbst gegenüber die Wahrheit zu erkennen: Ich bin krank, ich brauche Hilfe. „Alkoholkrank“ ist ohnehin das Wort, das Daniel bevorzugt, den Begriff „Alkoholiker“ mag er nicht. Zu verstehen ist das im Sinne einer Entpathologisierung und von gegenseitigem Respekt: Es ist schlicht stigmatisierend, eine Person auf ihre Abhängigkeit zu reduzieren. Eine Alkoholerkrankung ist kein Zeichen von Schwäche oder von fehlendem Willen, es ist eine Erkrankung, die sich niemand freiwillig aussucht.

Genau das ist aber die Crux in unserer Gesellschaft. Wir lassen uns von einer Welle Alkohol durchs Leben tragen und alle, die es nicht schaffen, auf ihr zu surfen, lassen wir nicht nur fallen, wir grenzen sie auch noch aus. Für Dr. Seilkopf wäre daher ein konsequenter Kampf gegen die breite Sozialisierung von Alkohol nicht nur zielführend, sondern unabdingbar. Dass es möglich ist, hier mit politischen Stellschrauben etwas zu erreichen, zeigt das Verschwinden der einst so heiß kritisierten Alkopops von der Bildfläche. Die hohen Steuern haben das Produkt derart unattraktiv gemacht, dass es heute kaum noch eine Rolle im Konsum spielt. Doch die Alkohol-Lobby in Deutschland ist stark und die Politik unwillens, etwas zu bewegen, fasst der Chefarzt der Kraichtal Kliniken das Dilemma zusammen.

Und so wird es sicherlich auch in den nächsten 50 Jahren genug Patientinnen und Patienten für die beiden Häuser in Münzesheim und Oberacker geben. Zwar geht der weltweite Alkoholkonsum zurück, in Deutschland ist im Vergleich zu den siebziger Jahren sogar ein deutlicher Abwärtstrend erkennbar, problematisch ist Alkohol global gesehen aber nach wie vor und in erschreckenden Zahlen: Rund 2,6 Millionen Menschen sterben jedes Jahr weltweit aufgrund von Alkohol, wobei etwa 2 Millionen davon Männer sind. Dies geht aus dem aktuellen Bericht der Weltgesundheitsorganisation über Suchtverhalten hervor. Außerdem sind 209 Millionen Menschen, was etwa 3,7 Prozent der Weltbevölkerung entspricht, alkoholabhängig. Zusätzlich haben 200 Millionen Menschen einen problematischen Alkoholkonsum. Aber was sind schon nackte Zahlen? Wie hat Falco gesagt: Die Realität ist eine Halluzination, die durch die Abwesenheit von Alkohol entsteht. Prost!

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7 Gedanken zu „„Wir haben ein total verrücktes Verhältnis zum Alkohol”“

  1. Vielen Dank für diesen Artikel.
    Es ist schon verstörend, welchen Stellenwert der Alkohol in unserer Gesellschaft hat.
    Ich habe in der eigenen Familie erlebt, was der Alkohol anrichtet und das hat auch meinen Konsum beeinflusst.
    Ich selbst trinke mittlerweile so gut wie nie und es kann ja jeder halten wie er möchte, aber mich stört, das es auf keinerlei Verständnis trifft, wenn man bei der Weihnachtsfeier, beim Geburtstag usw. einfach nichts trinken möchte außer Wasser.
    Erstaunt fragen die Leute meistens: „Warum?“, denn es ist in unserer Gesellschaft außergewöhnlich NICHT zu trinken, normal ist es, zu trinken und das am besten schnell und viel.
    Doofe Sprüche, komische Blicke, auf das alles muss man sich gefasst machen, wenn man keinen Alkohol möchte.
    Das Trinken gehört nun mal dazu… leider…

    • Das erlebe ich leider auch so!
      Als Frau wird man meist noch gefragt ob man denn schwanger sei, weil man keinen Alkohol möchte.
      Ich habe noch nie getrunken ( okay, Sekt an Silvester), einfach weil es mir nicht schmeckt. Früher ( als Teenager und junge Erwachsene) war ich unsicher, da es auf so viel Unverständnis gestoßen ist. Und eigentlich wollte ich ja auch dazugehören.
      Mittlerweile bekomme ich immer noch erstaunte Blicke, bin in aber selbstbewusster damit.
      Und sehr häufig wird gelacht und ( manchmal auch voller Stolz erzählt), wenn eine Party mal wieder so richtig ausgeartet ist was den Alkoholkonsum angeht.

    • Wir haben Ihnen bisher überhaupt nichts weggenommen und auch an ihrem Bier kein Interesse. Also keep on rockin und Wohl bekomms

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