Seit Jahrzehnten steht in der Gochsheimer Stadtschänke ein Herdle hinter dem Herd. Doch dieser Sommer wird ihr Letzter sein.
Müde sieht er aus, müde und erschöpft. Mit angespannten Muskeln trägt Thomas seinen Einkauf aus dem Großmarkt in die alte Stadtschänke in der Gochsheimer Riegelgartenstraße. Hier hat schon seine Mutter bis zur Erschöpfung hinter Herd und Theke gestanden, ist in manchen langen Nächten gar im Stehen eingeschlafen und nach ihr Thomas und seine Frau Lucia – seit nunmehr fast 40 Jahren. Mit einem Seufzer lässt sich der gestandene Koch in seinen Stuhl in dem kleinen Erker am Fenster sinken, schnauft tief durch. “Heute Morgen musste ich erst mal zwei Tabletten nehmen, um überhaupt stehen zu können”, sagte er, „bevor nachher die Gäste kommen, muss ich mich dann erstmal noch kurz ablegen”. Seit 5:30 Uhr in der Früh ist er bereits auf den Beinen, bereitet das Essen vor, kümmert sich um Haus und Hof, all die vielen kleinen und großen Aufgaben, die es tagtäglich zu erledigen gibt.
Ja, gearbeitet hat Thomas in seinem Leben jede Menge, sich im wahrsten Sinne des Wortes den Buckel krumm geschafft, wie ein “Brunneputzer” – so drückt er es aus. Gekocht hat er immer gerne, damals in den Siebzigern als einer der ersten Jungs überhaupt an der Markgrafenschule in Münzesheim den hauswirtschaftlichen Zug gewählt. So ganz von ungefähr kam der Wunsch Koch zu werden aber nicht, seine Eltern waren beide in der Gastronomie, die Erwartungshaltung an den Sohn zwischen den Zeilen klar formuliert. Nach der Schule tritt Thomas im Pforzheimer Martinsbau eine Lehre als Jungkoch an, lernt dort die Lehrgesellin Lucia kennen. Die beiden verlieben sich fast auf der Stelle, wohnen zunächst in ihrem Lehrbetrieb und nehmen sich dann im Anschluss im Geheimen ein kleines Zimmer in Pforzheim. Dass beide zusammen wohnen, durfte niemand wissen, die Siebziger waren hier in Deutschland noch sehr konservativ geprägt – ohne Trauschein kein Eigenheim, könnte man sagen. Das wird den beiden auch irgendwann zum Verhängnis, als die Vermieterin Luft von der trauscheinlosen Beziehung bekommt, setzt sie kurzerhand beide auf die Straße.
Doch auf besagten Schein mussten beide nicht lange warten, mit zarten 18 Jahren gaben sich Lucia und Thomas das Ja-Wort, sind seither ein unzertrennliches Paar… nicht nur als Eheleute, sondern auch als Arbeitskollegen. Die beiden lieben sich immer noch wie am ersten Tag, das steht fest und ist auch für Außenstehende unverkennbar. Lucia ist drei Jahre älter als Thomas, “eine alte Scheuer brennt gut” flachst dieser und kassiert dafür einen Ellenbogenknuff in die Seite. Die beiden beziehen ihre Kraft voneinander, ihre Familie und ihre starke Bindung sei ihre Stärke, erzählt Thomas und drückt seine Lucia. Beide haben zusammen viel erlebt – das Mädchen aus Landsberg und der Gochsheimer Bub aus dem deutschen Hof.
Nach seinem Pflichtjahr bei der Bundeswehr fängt Thomas im damaligen Upper-Class-Restaurant, der kleinen Abtei am Mühlburger Tor in Karlsruhe, als Koch an. Die ganze Nacht steht er dort am Herd, um das äußerst illustre Publikum auch zu später Stunde zu bekochen. Hier – und im angeschlossenen Tanztempel Oberbayern – gingen damals alle Größen aus Wirtschaft, Sport und Politik ein und aus. Thomas lernt hier den kompletten KSC kennen, die Bosse von L’Oreal und Mercedes, kannte – wie er zwinkernd erzählt – alle Bürgermeister im Raum Karlsruhe sowie deren Freundinnen. (allerdings nicht die Ehefrauen). Lucia arbeitet tagsüber im Kaufhaus Horten in der Innenstadt, am Abend in ihrem Zweitjob im Pforzheimer Club Pic-Pic. Arbeit ohne Ende, die beiden kannten ihr ganzes Leben lang nichts anderes.
1984 kam ihre Tochter Stephanie auf die Welt, so wurde es Zeit etwas mehr Beständigkeit und etwas mehr Ordnung in den neuen Lebensabschnitt als junge Familie zu bringen. Thomas und Lucia wechselten in den elterlichen Betrieb nach Gochsheim, wo Thomas Eltern die Stadtschänke bewirtschafteten. Thomas stand ab sofort Seite an Seite mit seinem Vater und seiner Schwester am Herd, während Lucia zusammen mit seiner Mutter am Tresen den “Depp für alles” gab. (O-Ton Thomas). 1991 setzten sich seine Eltern zur Ruhe und Lucia und Thomas übernahmen die Schänke. Zuerst in Pacht, nach dem Verkauf anno 2000 dann in Gänze. Beide setzten alles auf eine Karte, investierten einen hohen sechsstelligen Betrag und bauten noch ein kleines Hotel an das Restaurant an. Eine gute Idee, wie sich herausstellen sollte, immer dann, wenn die Gaststätte Durststrecken durchleben musste, kompensierte das Hotel die Talsohle.
Durststrecke gab es viele. Momente, in denen beide am liebsten hingeworfen hätten, aufgrund der finanziellen Verpflichtungen aber einfach nicht konnten. Was vielen nicht wirklich bewusst ist: Der Job eines selbständigen Wirtes ist oft knüppelhart. In der Regel steht Thomas die meiste Zeit seines Berufslebens sechs Tage die Woche 16 Stunden täglich in seiner Küche. Am Abend, dann, wenn die Gaststube gut gefüllt ist, gleicht die Arbeit einem niemals endenden Marathon. Wie Gewehrsalven kommen die Bestellungen herein, zeitgleich müssen Dutzende Gerichte gekocht und angerichtet werden. Dazu kommen Buchhaltung, Einkauf, Instandhaltung, Reinigung und ein ellenlanger Rattenschwanz weiterer Aufgaben. “Ich stand manchmal kurz vor einem Nervenzusammenbruch, heute würde man Burnout sagen”, erzählt Thomas ganz offen. “Ich war außerdem übergewichtig, das wäre so nicht mehr lange gut gegangen.” Bevor es aber zum Äußersten kommt, lernt Thomas, wie er ein Gegengewicht zum stressigen, beruflichen Alltag erzeugen kann. Er begeistert sich für den Triathlon, fängt an zu trainieren, überquert irgendwann sogar mit dem Fahrrad die Alpen. Der Sport, zusammen mit seiner Liebe für Motorräder – die er im übrigen mit der gesamten Familie teilt – schafft er es, sich immer wieder kurze Auszeiten zu nehmen. Doch auch nach der Reduzierung der Arbeitszeit von sechs auf fünf Tage bleibt nur wenig Zeit für Privates übrig. “Freunde haben wir im Grunde überhaupt keine, dafür ist einfach keine Zeit. Wann denn?” fragt Thomas.
So kann es nicht weitergehen, so darf es nicht weitergehen und daher haben sich Thomas und Lucia dazu entschlossen, ihre Stadtschänke zu schließen. “Es rentiert sich einfach nicht mehr”, stellt Thomas fest und vor allem “Ich kann nicht mehr.” Eine Übergabe des Betriebes an seine zweitgeborene Tochter Michaela stand eine Zeit lang zur Diskussion, aber Thomas möchte das Leben, das er die letzten Jahre geführt hat, so für seine Michaela nicht haben. Der Stress, die viele Arbeit, der kleine Verdienst, all die Sorgen… das wünscht er seinem Kind einfach nicht, seiner Michaela, die selbst schon zwei Kinder hat.
So schwer es Lucia und Thomas auch fallen mag, eine so lange Ära zu beenden… der letzte Tag der Stadtschänke steht bereits in ihrem Kalender. Am 31. Mai 2025 wird Thomas am Abend das letzte Mal seinen alten Gasherd abdrehen, Klarschiff machen und die Lichter in der Gaststätte löschen.
Diesem Moment blicken die beiden mit gemischten Gefühlen, aber vor allem mit viel Freude entgegen. Denn danach wird Ihnen ihr Leben das erste Mal komplett selbst gehören, sie werden endlich all das tun können, für was all die vielen Jahrzehnte kaum Zeit blieb. Thomas wird in der Garage an seiner “Gummikuh”, seiner alten, treuen BWM schrauben können. Sein erstes Motorrad, das er immer noch fährt, das bereits 250.000 km auf dem eisernen Buckel hat. Er wird endlich Zeit für den Modellflug haben, seine Flugzeuge konstruieren und in aller Seelenruhe abheben und durch die Luft gleiten lassen. Und er wird viel Zeit für sich und seine Lucia haben…seine Freundin, seine Frau, seine Wegbegleiterin seit so vielen Jahren.
Man darf den beiden dafür nur alles Gute wünschen, noch viele glückliche gemeinsame Jahre in Gesundheit und Frieden. Die Stadtschänke aber wird uns fehlen, ein Stück Kraichtaler Gastronomie-Geschichte, das unersetzbar verloren geht.
Danke für den sehr einfühlsamen Artikel. Mit der Stadtschänke geht auch ein Stück Gochsheimer Geschichte. Hier haben wir stets unsere Klassentreffen gefeiert, denn unsere Mitschülerin Ursula Herdle ist die Tochter des Seniorchefs. Wenn ich bedenke wie viele Wirtschaften es früher in unserem kleinen Ort gab und wie viele es heute noch gibt….
Es ist wirklich schade, dass die Stadtschänke schließt. Man fühlte sich wohl, schon familiär und das Essen war sehr lecker 😋 und ist es noch bis nächstes Jahr und die Portionen sind immer groß und appetitlich angerichtet. Aber ich verstehe auch die beiden. Man muss noch etwas zusammen unternehmen, so lange man noch kann und gesund bei Körper und Geist ist.
Die richtige Gastro stirbt , also essen wir daheim 👍
Ja bald gibt es keine Gaststätte mehr in Gochsheim. Philipp und Irma haben das aufgebaut und mit viel Liebe und Charm gelebt, Ursl hat von klein auf mitgearbeitet und gearbeitet. In den letzten Jahrzehnten hat dies sehr abgenommen. Sonntags nur noch einmal die Plätze belegt danach zu. Tagesessen gibt es schon lange nicht mehr. Dann nur noch Abends geöffnet. So kann man auch die Gastronomie an die Wand fahren und wo da die 16 Stunden Tage her kommen würde mich mal interessieren.
Dass die Kinder nicht weiter machen wundert mich.