Plötzlich war er da, Sinsheims neuer Oberbürgermeister Marco Siesing. Doch wer ist dieser Mann, der sich anschickt, einerseits die Stadt zu entwickeln und dabei das Dörfliche zu bewahren?
Wer im Sinsheimer Rathaus ganz nach oben will, der hat zunächst einmal die verwirrende Wahl zwischen zwei Fahrstühlen. Der eine bringt einen dorthin, wo man möchte, der andere nicht. Ich möchte an diesem späten Dienstagnachmittag zu Marco Siesing, Sinsheims neuem Oberbürgermeister, der nach der vorzeitig beendeten Amtszeit von Jörg Albrecht ganz nach oben wollte und das auch auf Anhieb schaffte. Äußerst respektabel, bedenkt man, dass Marco Siesing als Eschelbronner Bürgermeister in Sinsheim bislang maximal als Randnotiz im Lokalteil der Zeitung Erwähnung fand. Als neigschmeckter Sachsen-Anhaltiner und gerade einer starken Amtszeit in einem 2800-Seelen-Dorf in der Vita direkt in die fünfte Etage des Rathauses der großen Kreisstadt Sinsheim? Nein, das ist mehr als nur respektabel, das ist in höchstem Maße erstaunlich. 77 % der Stimmen hat er im ersten Wahlgang eingefahren, ein veritabler Erdrutschsieg, besonders eingedenk des Umstandes, dass der Zweitplatzierte nicht einmal auf 20 % kam, ja, nicht einmal annähernd.
Warum die Sinsheimer Wählerinnen und Wähler ihre Stimmen und ihr Vertrauen einem im Grunde völlig Unbekannten geschenkt haben? Darauf kann ich keine abschließende Antwort geben, aber nach meinem über einstündigen Interview mit Marco Siesing zumindest ein paar fundierte Vermutungen äußern. Doch von Anfang an. Wer die richtige Wahl im Fifty-Fifty-Poker der beiden Aufzüge im Rathaus getroffen hat, der muss im Grunde nur noch um die Ecke biegen, um das Sinsheimer “Machtzentrum” zu betreten. Marco Siesing hat das große Eckbüro, das mit den vielen Glasfenstern und dem besten Blick auf den Turm des Sunnisheim. Seine Tür steht offen, die Telefonate von Melanie Wricke im Vorzimmer scheinen ihn nicht zu stören. Beide unterhalten sich hin und wieder ganz analog und ohne Telefon, indem man sich einfach durch die offene Tür zuruft. Kurze Randnotiz, die man in Sinsheim sicher versteht und zu deuten weiß… Noch bevor es in eines der beiden Büros geht, muss man zunächst am Konterfei von Dietmar Hopp vorbei, dessen tönerne Büste einem schon von weitem entgegenblickt. Ob dem großen Mäzen vielleicht das eine oder andere Luftküsschen oder ein kurzes Kopfnicken zuteil wird? Wer weiß… an diesem Namen kommt man aber weder in Sinsheim noch in Hoppelheim vorbei, so viel scheint klar.
In Jörg Albrechts Drehsessel sitzt Marco Siesing, füllt diesen etwas mehr aus als sein Vorgänger, zumindest rein von den physischen Dimensionen her. Marco Siesing ist 47 Jahre alt, aber diese knapp fünf Jahrzehnte sieht man ihm definitiv nicht an. Obwohl ich drei Jahre weniger auf dem Buckel habe, hat das Leben schon deutlich mehr Falten in mein Gesicht gegraben. Sinsheims neuer Oberbürgermeister hat dagegen noch fast knabenhafte Haut, blondes Haar über einer weiten Stirn und dazu wache und freundliche Augen. Sein Lächeln ist offen, zeugt aber auch von Zurückhaltung, schließlich gilt es sich zuerst zu beäugen. Vom Staubsaugervertreter-Grinsen, das viele Amtskollegen aus dem Effeff beherrschen, ist bei Marco Siesing zumindest nichts zu sehen. Offen und interessiert stellt er Fragen, lässt wirkliches Interesse an seinem Gegenüber erkennen, weit über das übliche in Grautönen schraffierte Smalltalk-Gebaren hinaus. Schon nach wenigen Momenten wird klar: Das wird ein offenes, ein ehrliches, ein gutes Gespräch.
Zuerst befrage ich Marco Siesing nach seiner Geschichte, dem, was er bisher erlebt hat, und das stellt sich folgendermaßen dar: Geboren und aufgewachsen ist er in Halle an der Saale, einer der großen Städte in den neuen Bundesländern, zu finden im Süden von Sachsen-Anhalt. Sein Großvater führte hier eine Wirtschaft, die Eltern führten das Gasthaus in Halles Altstadt später fort. Die ersten zwölf Jahre seines Lebens verbrachte Marco also als Staatsbürger der einstigen Deutschen Demokratischen Republik, einem Land, dem seine Familie stets kritisch gegenüberstand und das auch Marco nach einem einschneidenden Erlebnis in seiner Schulzeit kritisch zu hinterfragen begann. Einmal bekam er von einem Freund eine Jeansweste geschenkt, auf deren Rücken eine kleine US-Flagge aufgenäht war. Als er die Weste einmal in der Schule anhatte, plusterte sich die Staatsmacht über dem kleinen Jungen auf. Viel Tadel, lange Ansprachen und die Einbestellung der Eltern waren die Folgen. Der erste Kontakt mit der Politik war für Marco also im Grunde kein guter: „Wenn Kinder wegen einer Weste mit USA-Aufschrift in die Schule zitiert werden, dann wusste ich, dass etwas nicht stimmen konnte“, sagt er nachdenklich, als er sich an diese Begegnung mit dem Staat zurückerinnert.
Tatsächlich ist es zu Beginn auch nicht die Politik, die ihn anzieht und begeistert. Noch als junger Mann beschließt er, der Bundeswehr beizutreten, absolviert eine Ausbildung zum Offizier in der wiedervereinten Bundesrepublik. Nach mehreren Stationen im Inland wird Marco Siesing auch im Ausland eingesetzt, um die Jahrtausendwende im kosovarischen Prizren mit den deutschen KFOR-Streitkräften. Insgesamt zwölf Jahre diente er in der Bundeswehr, konnte sich aber über die Zeit immer weniger mit deren Entwicklung identifizieren. Die Transformation von einer klassischen Armee, die für den (kalten) Krieg ausgebildet war, hin zu einer Einsatzarmee und internationalen Missionen verlief nach seiner Wahrnehmung zu schleppend, zu ineffizient. Bis heute, oder vielleicht auch gerade wieder heute, verfolgt er die Entwicklung der Truppe ganz genau, hält die Bundeswehr aber für deutlich besser aufgestellt, als es ihr allgemeiner Ruf vermuten lässt. Für immer wollte Marco Siesing sowieso nicht dienen. „Es war eine prägende Zeit, aber ich wusste, dass ich dort nicht bis zur Pension bleiben wollte“, erzählt er, und auch die persönlichen Umstände trugen schließlich zur Entscheidung bei, die Uniform an den Nagel zu hängen. Mit den „persönlichen Umständen“ meint Marco Siesing die Gründung einer Familie. Nach der Heirat folgten, mit einigem Abstand zueinander, seine zwei Söhne. Der Älteste ist bereits volljährig, der Jüngere noch in der Grundschule. Das Familienleben war mit den wechselnden Einsatzorten eines Bundeswehroffiziers nicht mehr vereinbar, und so erfand sich Marco Siesing schließlich komplett neu.
Er begann an der Hochschule in Kehl Verwaltung zu studieren, ein echter Klassiker und Grundlage für viele lokalpolitische Karrieren im Land. Seinen ersten Job hatte Marco Siesing dann im Dienste der Stadt Mannheim, wo er im Ordnungsamt unter anderem für das Waffenrecht, aber auch Integration und Migranten zuständig war. Wer Mannheim kennt, weiß, dass er hier vermutlich nicht mit Unterforderung zu kämpfen hatte. 2015 kandidierte er schließlich als Bürgermeister im Schreinerdorf Eschelbronn und eroberte das kleine Rathaus auf Anhieb. Dort muss er augenscheinlich einen respektablen Job abgeliefert haben, denn die Wiederwahl gelang ihm im vergangenen Jahr mit über 93 % der Wählerstimmen. Was weder er noch die Eschelbronner zu diesem Zeitpunkt ahnten: Diese zweite Amtszeit sollte nur rund ein Jahr dauern. Grund dafür war die vorzeitige Amtsaufgabe von Sinsheims Oberbürgermeister Jörg Albrecht, ein Posten, der für Marco Siesing durchaus reizvoll war. Also setzte er nach Albrechts Ankündigung im Sommer alles auf eine Karte und kandidierte. Es folgte ein Crash-Wahlkampf mit bis zum Bersten gefülltem Terminkalender. Innerhalb von Wochen galt es, die Sinsheimer nicht nur kennenzulernen, sondern auch zu überzeugen. Übersetzt heißt das – Klinken putzen, nonstop Gespräche führen oder, wie man hier sagen würde: Babble bis nemmer geht. Voller Einsatz, direkt vor Ort, Online Only funktioniert auf dem Land noch lange nicht. „Die Menschen wollen, dass man präsent ist. Instagram allein reicht nicht“, sagt er und meint das auch so.
Nun ja, jetzt ist er hier und groovt sich ein, so schnell es geht, denn Marco Siesing hat viel vor. Seine To-do-Listen sind gut gefüllt, die Wiedereinschaltung der nächtlichen Straßenbeleuchtung war da noch ein vergleichsweise einfaches Unterfangen. Auf seiner Agenda steht der Ausbau der Wirtschaftsförderung, schwere und massive Investitionen in die Infrastruktur, allem voran Schulen und Kindergärten, sowie natürlich auch das in Sinsheim omnipräsente Thema Nummer eins: der überbordende Verkehr, der sich täglich durch die Straßen wälzt.
Insgesamt will er die Stadt freundlicher, lebendiger und liebenswerter gestalten, betont dabei aber, nicht bei null anfangen zu müssen. „Sinsheim wird oft unter Wert verkauft – dabei ist es eine starke Stadt“, weiß er und adressiert dabei zwischen den Zeilen das im Kraichgau traditionell gepflegte und oft enervierende Gebruddel mancher Zeitgenossen, für die die Gläser notorisch nur halb voll sind. Damit kommt er übrigens gut klar, gesteht dieser Wesensart sogar eine Art schrullige Sympathie zu. Was er jedoch überhaupt nicht mag, ist ein „Hintenrum“ und allgemeiner – Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit. „Besonders glücklich macht mich Verlässlichkeit, wenn Absprachen eingehalten werden“, hält er hingegen fest und breitet dabei unwillkürlich die Arme aus, ein bewusstes oder vielleicht auch unterbewusstes symbolisches Senken der Schilde. Überhaupt ist das Auftreten von Sinsheims neuem Oberbürgermeister durch und durch authentisch, die oft spürbare Diskrepanz zwischen Aussage und Körpersprache, bei Marco Siesing ist nichts davon zu spüren.
Er will Sinsheim nach vorne bringen, er will hier etwas bewegen, das spürt man – daran habe ich nach diesem Gespräch keine Zweifel. Ob ihm das gelingen wird, das steht natürlich auf einem gänzlich anderen Blatt, schließlich gilt es zu überzeugen, zu führen, strategisch zu denken und zu planen und mehr als nur ein Hindernis zu überwinden. Seine instinktive Wahrnehmung der Stadt und der Menschen, die darin leben, scheint nach meinem Dafürhalten aber durchaus von einem guten Bauchgefühl zu zeugen. Sinsheim sei eine Stadt mit dörflichem Charakter, den es zu bewahren gilt, aber auch zu modernisieren… in etwa so drückt Marco Siesing sich aus. Meine Frage, ob „Sinse“ eigentlich mehr Dorf als Stadt sei, war auf jeden Fall weitaus weniger elegant.
Ich glaube aber, das ist der ganz zentrale, der wichtigste Punkt, in dem die Menschen hier gerne missverstanden werden. „Dorf“ ist für sie kein abwertender Begriff, er ist ein lieb gewonnener und gefühlter Standpunkt, den viele hier in der „Stadt“ einnehmen. Man ist hier zu Hause, man will sich hier wohlfühlen, und auch mit Museen, Wellness-Tempeln, Bundesliga-Stadien oder Unternehmen von Weltrang bleibt es dennoch dabei: Sinse isch Heimat, klein, liebenswürdig und wert, bewahrt und verteidigt zu werden – gegen alles, was daran rütteln will.
Und ich glaube, Marco Siesing hat das verstanden.