Neue Asphalt-Adern schaden unserer Heimat mehr als sie nutzen
Zunächst mal Butter bei die Fische: Ich bin nicht gerade das, was man einen herzlichen Menschenfreund nennen würde. Auf der prächtigen Titte einer Gaußschen Glockenkurve zwischen Misanthropie und Philanthropie, würde ich mich tendenziell stark abrutschend bei ersterem einordnen. Was ich am Kraichgau immer so geliebt habe, ist die Möglichkeit abgeschieden und zurückgezogen zu leben und doch vom Rest der Welt nicht komplett abgeschnitten zu sein. Es ist das Ländliche, das Kleine und das Überschaubare, was diesen hügeligen Winkel unserer großen Welt für mich so liebens- und lebenswert macht.
Doch diese heile Welt kollabiert vor unseren Augen Jahr für Jahr zunehmend. Unsere kleinen Städte müssen analog zu den bekackten Ballungszentren um Karlsruhe und Heidelberg immer größer, moderner und hipper werden. Überall werden begeistert Neubaugebiete aus dem Boden gestampft, Flächen versiegelt und dabei nicht im Mindesten berücksichtigt, dass unsere ländliche Infrastruktur diesem Größenwahn überhaupt nicht gewachsen ist. Weil im aus allen Nähten platzenden Karlsruhe beispielsweise die Preise mittlerweile jenseits von Gut und Böse liegen, wurde der Kraichgau irgendwann inoffiziell zur Trabanten-Siedlung der öden Großstadt erklärt. Zahlen gefällig? Im Vergleich zu 2014 sollen bis 2030 Bretten um bis zu 7,3 Prozent und Bruchsal bis zu 6,1 Prozent wachsen – ähnlich sieht es in den anderen Kraichgau-Gemeinden aus. Unterm Strich sind das Tausende neue Menschen die irgendwo leben, jeweils ein Fahrzeug fahren und jeden Tag einkaufen und zur Arbeit fahren wollen…. Mir läuft dabei ein kalter Schauer den Rücken herunter.
Anstatt uns aber auf die Hinterbeine zu stellen, werfen wir noch mehr Kohle, Holz und Zunder in jenes Feuer, in dem wir selbst ganz langsam verbrennen. Weil z.b. immer mehr Verkehr durch die viel zu engen Adern unserer Straßen pulsiert, fordern wir ob das entnervenden und tagtäglichen Stau-Marathons immer noch mehr Straßen, um wie gewohnt zügig von A nach B zu kommen. Doch was uns vordergründig als Lösung dieses Dilemmas erscheint, würde im Wesentlichen das Ende unserer ländlichen Heimat wie wir sie kennen besiegeln. Mehr Straßen würden nämlich keineswegs ein schnelleres und entspannteres Vorankommen bewirken, sondern nur noch mehr Stau und mehr Verkehr nach sich ziehen.
Schon vor zehn Jahren haben die beiden Professoren für Wirtschaftswissenschaften an der University of Toronto, Gilles Duranton und Matthew Turner festgestellt: Mehr Straßen bringen unweigerlich mehr Verkehr, oder noch etwas plastischer ausgedrückt: Hätten wir im Kraichgau doppelt so viele Straßen wie bisher, hätten wir auch automatisch doppelt so viel Verkehr. Diese These haben sich die beiden nicht aus der Rotznase gezogen, sondern nach der intensiven Auswertung von Verkehrsdaten im Zeitraum zwischen 1983 und 2003 erarbeitet. Das Spannende: Egal in welcher Situation, in welcher Region oder in welcher Konstellation auch immer – dort wo neue Straßen gebaut wurden, nahm parallel auch der Verkehr zu. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen bereits Jahrzehnte zuvor der Ökonom Anthony Downs, der Verkehrsexperte Hans-Jochen Vogel und der ex VW-Chef Daniel Goeudevert. Das sogenannte Braess-Paradoxon zeigt sogar auf, dass zusätzlichen Straßen selbst bei gleichbleibendem Verkehrsaufkommen die Fahrtdauer für alle Autofahrer erhöhen. Die genaue Beschreibung dieses Umstandes würde hier den Rahmen sprengen, mehr dazu gibt’s im entsprechenden Wikipedia-Artikel nachzulesen.
Werden wir doch etwas konkreter und kommen zurück in unser schönes Hügelland. Hier lechzt man momentan besonders zwischen Bruchsal, Bretten und Pforzheim nach Entlastung auf der Straße und sehnt sich nach dem baldigen Bau entsprechender Umgehungsstraßen. Scheinbar erhört von der Bundespolitik wurden entsprechende Projekte um Bruchsal, Bretten, Neulingen und Bauschlott auch bereits quasi über Nacht in den Bundesverkehrswegeplan 2030 aufgenommen – die Planungen hierfür laufen bereits an. Doch werden diese Straßen endlich die ersehnte freie Fahrt für freie Kraichgau-Bürger mit sich bringen? Wohl kaum. Tatsächlich entsteht auf diese Art und Weise eher ein attraktiver Bypass für die chronisch überlasteten Autobahnen 5, 6 und 8. Der Fernverkehr wird mit Freuden und Kusshand die neue Route als kostengünstige Abkürzung in Beschlag nehmen und regelrechte Blechlawinen dürften sich so nonstop durch den Kraichgau wälzen. Meine persönliche Prognose: Der Verkehr wird durch diese Augenwischerei eher zu- statt abnehmen.
Ich glaube wir müssen uns am Ende einfach ehrlich machen: Unser bisheriges System funktioniert so einfach nicht mehr – es ist schon längst am Ende und jeder von uns weiß das im Grunde seines Herzens. Wer ohne den Gewöhnungseffekt ab und zu während der Stoßzeiten von und nach Karlsruhe unterwegs ist, der wird sich die Augen reiben was Pendler tagtäglich stillschweigend hinnehmen müssen. Der Verkehr in der Peripherie der großen Stadt kommt morgens und abends mit eiskalter Regelmässigkeit zum Erliegen. Anderthalb Stunden für die Strecke zwischen Karlsruhe und Bruchsal sind dann keine Seltenheit, egal ob man die A5, die B3, die B36 oder die Landesstraße über Stutensee wählt. Jeder Haushalt verfügt über ein bis zwei Autos, alle wollen zur Arbeit, später am Tag wieder nach Hause, am Wochenende ins Schwimmbad, am Abend zum Einkaufen und die Kinder zum Fußball fahren… Durch die stetige Steigerung der Einwohnerzahlen werden diese Entwicklungen so dramatisch zunehmen, das der Verkehr unweigerlich kollabieren muss. Was soll er auch sonst tun. Kommt es euch nicht auch verrückt vor das Tag für Tag jeder einzelne Mensch in einem eigenen Auto mit drei freien Sitzen um sich herum und einem Kraftstoff fressenden Motor unterm Arsch unterwegs ist? Ich fand das schon als Kind absolut kirre, als 1990 von meiner Ikea Family – Musikkassette dröhnte: Manchmal stelle ich mir vor, wie schön es wär, gab’s in unserer Straße weniger Verkehr….
Anstatt neuer Straßen braucht es also innovative Ansätze um den Verkehr in und um die große Stadt neu zu erfinden. Der öffentliche Nahverkehr muss endlich aus seiner Defensive herauskommen, effizienter, sicherer und vor allem günstiger werden. So hat die SPD-Kreistagsfraktion beispielsweise gerade die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets beim Karlsruher Verkehrsverbund gefordert – das wäre ein popeliger Euro pro Tag, eine Summe die man wahrscheinlich schon im Standgas im täglichen Stau-Stehen verjubelt. Dieser Kostenaspekt und moderne Entwicklungen wie das regiomove Konzept in und um Karlsruhe, könnten kombiniert mit der zunehmenden Unattraktivität des Straßenverkehrs, vielleicht am Ende zu einem Kurswechsel führen. Wenn es dann noch gelingt den Güterverkehr auf der Schiene so attraktiv zu machen, dass er für die Logistikbranche einfach kostentechnisch die bessere Wahl ist, wäre ebenfalls schon viel gewonnen. Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen: Letztes Jahr wurden über 3 Milliarden Tonnen Güter auf unseren Straßen befördert, auf der Schiene dagegen nur rund 350 Millionen Tonnen. Der LKW Verkehr wird sogar vom Staat jedes Jahr mit einem dreistelligen Millionenbetrag subventioniert.
Klar, bleiben wir realistisch. Das Auto wird im Kraichgau immer wichtig sein. Was bringt einem Dorfbewohner der Nahverkehr, wenn nur dreimal am Tag ein Bus fährt? Jedoch müssen wir uns bewusst machen dass der mausetote Gaul auf dem wir sitzen, durch den Bau eines größeren Stalles auch nicht mehr lebendiger wird. Anstatt abzuwarten bis der Straßenverkehr für uns so unerträglich und unzumutbar wird, dass wir notgedrungen auf den Nahverkehr ausweichen, sollten wir lieber jetzt damit beginnen tragfähige Konzepte zu entwickeln, von denen ein jeder wirklich profitieren kann. Das Know-how und die Experten haben wir, wir müssen nur lernen Ihnen verdammt noch einst endlich einmal zuzuhören.
Falls Sie sich jetzt fragen sollten, ob wir im Kraichgau wirklich genug Straßen haben, empfehle ich Ihnen abschließend noch ein kleines Experiment. Suchen sie irgendwo im Kraichgau einen beliebigen Ort auf, sei es in den Weinbergen, auf dem Feld oder im Wald. Bleiben sie stehen, werden sie still und lauschen Sie: Ich garantiere Ihnen, Sie werden irgendwo das Rauschen einer Straße hören – ganz egal wo Sie gerade sind.
Text: Stephan Gilliar
Dieser Beitrag erschien erstmals im Winter 2019