Und plötzlich sind alle wieder 18
Eigentlich hat die Odenheimer Kult-Disco “Sternen” schon seit vielen, vielen Jahren geschlossen, doch ihre selige Reinkarnation ist im Schuppen von Gerd Wormer wiederauferstanden. Ich habe dort den schönsten Abend des Jahres verbracht…
von Stephan Gilliar
“to see the rumble in the jungle”…. und der ganze Sternen singt: “in Za…in Zaire”. DJ Bertram steht am DJ-Pult in der Ecke, zieht den Lautstärkeregler bis zum Anschlag, grölt den Refrain der alten Johnny Wakelin – Nummer mit und grinst dabei über das ganze Gesicht. Die Discokugel lässt gesprenkelte Lichtfetzen über tanzende oder mit der Faust auf den Tresen klatschende Schemen huschen, bunte kleine Mosaike auf Gesichtern, die ebenso strahlen wie das von Bertram. Der alte Sternen glüht, der Sternen brennt, fast so hell wie damals und alle, die heute Abend hier sind, sind fröhlich… nein, sie sind glücklich.
Warum auch nicht, es ist immerhin wieder 1976, sie sind 18, sie sind jung und ihr Leben liegt vor Ihnen wie ein Meer aus unendlichen Möglichkeiten und Verheißungen. Das Benzin kostet 80 Pfennige, in der Kneipe wird geraucht, die Musik kommt von Achtspurgeräten, Helmut Schmidt ist Bundeskanzler und in Odenheim steigt der “Sternen” zu dem “place to be” schlechthin auf. Die großen Stars geben sich hier die Klinke in die Hand, Peter Maffay zum Beispiel oder Juliane Werding, sogar “The Sweet” hätten hier einmal spielen sollen, so heißt es, wenn ihr Roady sich nicht mit samt all den Instrumenten irgendwo im Kraichgau verfahren hätte.
Gott und die Welt treffen sich im Sternen, an jedem Samstagabend steht die Schlange bis weit in die Nibelungenstraße hinein. Drinnen ist es düster und verwinkelt, mehrere Gasträume und Tanzflächen in den Eingeweiden der alten Tanzbar nehmen zu Spitzenzeiten mehrere hundert Menschen auf. Von weit her kommen Sie nach Odna, um hier zu schwofen und zu feiern. Vermutlich jede zweite Ehe in Odenheim geht auf irgendeinen Abend im Sternen zurück. “Des war de gröscht Kuppelschuppe weit und breit” brüllt mir Markus ins Ohr, “Mei Eltern hen sich hier auch kenneglernt.”. Zweimal muss er das noch wiederholen, bis ich es verstanden habe, denn jetzt hat Bertram die Creedence-Platte mit allem, was an Dampf geht, Richtung Endstufe des Verstärkers geschickt. “I see the bad moon rising…..doo, doo, doo, lookin′ out my back door”.
Alle, mit denen man heute Abend redet, erzählen irgendeine Anekdote, die sie mit ihrem Sternen verbinden. Es sind unterschiedliche Geschichten, aber im Grunde doch eigentlich eine einzige: Wir waren jung, wir waren glücklich, wir waren frei.
Das Schöne an dieser Geschichte, die ich Ihnen heute und hier erzähle, ist aber nicht, dass all das einmal war, sondern dass all das nun auf seine Weise wiedergekehrt ist. Der Sternen lebt! Nicht an seiner alten Stelle in der Nibelungenstraße, wo neuerdings ein Kindergarten den Jüngsten im Dorf Zuflucht bietet, sondern in der alten Schuhfabrik der Familie Wormer im alten Odenheim am Ufer des Katzbach. Gerd Wormer hat das Inventar seiner alten Lieblingskneipe vor der Müllkippe bewahrt, alles gerettet, wieder aufbereitet, zum Glänzen gebracht und in einem alten Nebenraum der elterlichen Fabrik wieder auferstehen lassen.
Nichts davon ist wirklich schön oder nach heutigen Maßstäben auch nur im Ansatz ästhetisch…die dunkle Kneipentheke zum Beispiel mit ihren aus Spanholz ausgeschnittenen Rauten an der Kopfseite und den braunen Spotleuchten, die kleine fahle Lichtkegel auf die Linoleum-Tresen werfen. Doch für Gerd und seine Odenheimer Freunde sind die wenigen Quadratmeter, auf denen ihre Jugend ganz unverhofft wieder auferstanden ist, ein Tempel, ein fast heiliger Ort.
Für Familie, Freunde und Kumpel öffnet Gerd im Privaten den alten Sternen ab und zu, dann wenn es etwas zu feiern gibt… was in Odenheim auf sehr viele Tage im Jahr zutrifft. Dann kommen sie und sie kommen gerne… verdammt gerne. Dann sitzen Sie um den Tresen, tanzen auf der kleinen Tanzfläche, sitzen in den dunklen Nebenräumen, bevölkern jeden Quadratzentimeter dieser kleinen Zeitblase. Man kann Ihnen förmlich beim Jüngerwerden zusehen. Plötzlich sitzen da keine Bürokräfte, keine Handwerker, keine Rentner, keine mehrfachen Mütter, keine Kreuz- oder Kniegeplagten mehr… Plötzlich sieht man Dauerwellen, Vokuhila, Flaumbärte, Tanktops, Lederslipper, Häkeltops und Fransenwesten.
“Isch des geil heit”, freut sich Lothar und in seinen Augenwinkeln glänzt eine Glücksträne. “Odna Live, so schee”. Ja, so sehen das heute Abend alle. Man schwätzt miteinander, man blödelt ausgelassen herum, Männer nehmen sich lachend in den Schwitzkasten, die Frauen stecken die Köpfe zusammen, halten dabei die Zigaretten in die Luft, um die Haare nicht anzusengen. Ab und zu gibt Bertram einen Schwall Disconebel aus der kleinen Maschine in den Raum, was eigentlich gar nicht nötig wäre, durch die vielen Raucher lässt sich die Luft ohnehin mit einem Messer schneiden. Aber das ist heute allen egal, mir auch, ich qualme entgegen meiner Gewohnheit wie ein Schlot, einfach weil sich all das wie früher anfühlt… verdammt ich bin wieder 16. Ich lache über Wolfgang, der aus der Damentoilette kommt und irgendwas über Odenheimer Gender-Gerechtigkeit ruft, ich lache über Alfred, der seiner Gerda gekonnt Erdnüsse aus dem Thekenspender in den offenen Mund wirft. Ich nicke Gerd, zu der mir vom anderen Ende des Tresen etwas erzählt, ich aber nur seine Lippenbewegungen wahrnehme, für alles andere ist es viel zu laut.
Menschenskinners, ich habe an diesem Abend 25 Jahre einfach an der Garderobe abgegeben und das ist okay, denn allen anderen geht es genauso. Der neue alte Sternen ist ein kleines Stück von Gestern… frivol, laut, wild, auf jede erdenkliche Weise politisch unkorrekt und genau deshalb so wundervoll, dass ich es kaum Worte fassen kann. Ich sauge alles in mich auf, um möglichst viel von diesem Abend in mich aufzunehmen, es abzuspeichern und für schlechte Zeiten aufzubewahren. Gerd, der mit seinem alten Stern T-Shirt einen JC (Jackie-Cola) nach dem anderen zusammen rührt, sein Bruder Robert der wie ein Fels in der Brandung in aller Seelenruhe seine Pfeife ansteckt, Bertram der glücklich wie ein Schuljunge in der Ecke die großen Hits der Siebziger und Achtziger ineinander gleiten lässt…
Bevor ich aufstehe, nach Hause gehe, meine Klamotten verbrenne und ins Bett falle, wünsche ich mir vom DJ noch einen Song auf den Weg. Einen, der in die Zeit passt, in die ich heute hier im Sternen zurückreisen durfte, einen der das Gefühl einfängt, dass wir alle heute Abend hier in diesem lauten, rauchgeschwängerten, sperrholvertäfelten, discbeorgelten Stück Paradies gemeinsam fühlen. “Forever young” von Alphaville. Lass jucken, Bertram!
Tolle Bilder, toller Bericht,
dank dem Herrn…Stephan Gilliar. Ich bekomme schon wieder Gänsehaut wenn ich an den Nachmittag, bzw. Abend denke.
Der Sternengeist lebt und lässt uns Odama und auch alle Anderen in den Heiligen Hallen wandeln.
Herzlichen Dank natürlich an Gerd Wormer inkl. Team, die dies alles
ermöglicht haben.
„Back to the roots“, hoffentlich noch viele Jahre!
Sau geil ;-)
Des ledschde Lied im Sternna wa imma: Gute Nachte Freunde…
Echt toll, super!