Die Pflegemutter

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“Das Leben ist so, wie man es sich macht” – Mit 13 Jahren begann Jutta Ritzmann-Geipel ihre Arbeit im Krankenhaus. Nun – knapp 50 Jahre später – nimmt sie leise Abschied.

Was mir als erstes an ihr auffällt, ist ihr glockenhelles Lachen. Es wirkt fast kindlich, fröhlich und unbeschwert. Ein Lachen, dem die meisten Erwachsenen kaum noch fähig sind. Und dann ist da diese Energie. Als ob ihr Inneres beständig Elektrizität produziert, die irgendwo hin muss, die irgendwie kanalisiert werden will. Dann geht sie schnellen Schrittes, rutscht auf dem Stuhl hin und her, gestikuliert beim Sprechen und die Worte sprudeln geradezu aus ihrem Mund. Mit ihren über 60 Jahren verfügt Jutta Ritzmann-Geipel noch über einen Elan, eine Lebendigkeit, die mich schon mit meinen rund 20 Lenzen weniger auf dem Buckel alt aussehen lässt. Jeder andere wäre mit einer so heiß brennenden, inneren Flamme längst ausgebrannt, doch sie kann damit irgendwie umgehen. Wie, das weiß ich auch nach unserem zweistündigen Gespräch nicht zu sagen.

Fest steht in jedem Fall – den absoluten Großteil ihres Lebens brannte Jutta Ritzmann-Geipel für das Krankenhaus, für die Menschen, die dort jeden Tag ein- und ausgehen – sowohl die in weißer Kleidung, als auch alle anderen. Dass ihr Leben so aussehen würde, wusste sie schon als Kind. Als ob es eine unverhandelbare Tatsache, eine Vorherbestimmung und genau der Auftrag gewesen wäre, den ihr das Universum, Gott oder wer auch immer zugedacht hatte. Schon als Teenager arbeitete sie an den Wochenenden in der Fürst-Stirum-Klinik in Bruchsal, jenem Krankenhaus, in dem sie gerade einmal 13 Jahre zuvor auf die Welt gekommen war. Kleine Hilfstätigkeiten, alles andere als spektakulär… Bettwäsche verteilen, Geschirr waschen, all so etwas. Für andere Mädchen in ihrem Alter Makulatur, für Sie der erste Schritt in ein Leben, das sich schon in jungen Jahren vor ihr ausbreitet wie auf einem Reißbrett.

Kurze Zeit später bewarb sie sich für ein freiwilliges soziales Jahr am Universitätsklinikum Heidelberg. Dass es damals keinen Notstand in den Pflegeberufen gegeben haben kann, sieht man an den Begleitumständen dieser Bewerbung. 1000 Mädchen bewerben sich um etwa 80 verfügbare FSJ-Plätze, eine Quote, bei der heute jeder Personaler im Gesundheitswesen feuchte Augen bekäme. Sie ahnen es bereits, Jutta war selbstredend unter den besagten 80 Glücklichen. Noch während dieser Zeit – vergessen wir nicht, wir reden über ein 15-jähriges Mädchen – bewarb sie sich um einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester an der Klinik in Bruchsal. Einerseits, weil das quasi ihre “Heimatklinik” war, andererseits, weil Bruchsal als eines der wenigen Krankenhäuser damals bereits 17-Jährige Auszubildende akzeptierte, andernorts war die Volljährigkeit meist Voraussetzung. Ein ganzes Jahr warten? Nicht mit Jutta.

Sie hätte eine gute lexikalische Definition von Ehrgeiz abgegeben, gibt frei und frank zu immer gerne gelernt zu haben. Eine Streberin war sie aber nicht. “Ich war nicht strebsam, ich habe einfach gerne Neues gelernt” sagt Sie und erzählt, wie sie die 4 Wochen zwischen FSJ und Ausbildungsbeginn mit zwei Lehrbüchern als Abschiedsgeschenk aus Heidelberg gefüllt hat, die vermutlich Medizinstudenten in den mittleren Semestern noch überfordert hätten.

Staunend höre ich mir Schritt für Schritt dieser beruflichen Laufbahn an, eine Biografie, die mir eingedenk meiner eigenen geradezu surreal erscheint. Während ich (und vermutlich die allermeisten meiner Altersgenossen) die Teenagerzeit mit Gefühlschaos, Träumereien und tagtäglichem “Trial and Error” verbracht habe, verfolgte Jutta Ritzmann-Geipel ihren höchstpersönlichen Masterplan so zielstrebig, dass man sich nur ungläubig die Augen reiben kann.

Diese Zielstrebigkeit sollte auch fortan nicht mehr abreißen. Schon während ihrer Ausbildung verfolgt Jutta insgeheim das Ziel, baldmöglichst nach Heidelberg zurückzukehren, doch dann kommt es erstmals anders als gedacht. Durch eine Kollegin erfährt sie von der vergleichsweise jungen und modernen Rechbergklinik in Bretten, hört fasziniert von den Vorteilen kleiner Stationen, kleiner Teams und den interessanten Arbeitszeiten und Konditionen. Man muss sich vor Augen führen, damals gab es in der Klinik Bruchsal noch Patientenzimmer mit zehn oder mehr Betten, zudem nur eine Handvoll Toiletten auf Station, nicht immer direkt in den Krankenzimmern. Bretten war da ganz anders, galt bei der Einweihung Ende der 60er sogar als architektonisches Meisterwerk im Bauhausstil. Schwer vorzustellen, wer die letzten Tage der alten Klinik erlebt hat, doch damals war es ein Leuchtfeuer im baden-württembergischen Gesundheitswesen.

Jutta bewarb sich und wurde eingestellt. Kurze Zeit später absolvierte sie berufsbegleitend im Diakonissenkrankenhaus Rüppurr eine Weiterbildung zur Stationsleiterin. Daraufhin fiel quasi nahtlos bereits das nächste Puzzleteilchen in ihrer Karriere an den dafür vorgesehenen Platz. Mehr oder minder zeitgleich mit dem Abschluss ihrer Weiterbildung, wurde ein Platz in der Stationsleitung einer Pflegegruppe in Bretten vakant. Auch hier – grünes Licht für Jutta Ritzmann-Geipel. Die Zeit in Bretten beschreibt sie als eine der schönsten in ihrer Laufbahn. Sie schwärmt von ihren vorgesetzten Chefärzten, von ihren Kolleginnen und Kollegen, von der familiären Atmosphäre in der Klinik und von den vielen gemeinsamen Momenten. Es scheint tatsächlich eine tolle Zeit gewesen zu sein. In einem alten Fotoalbum voller leicht angegilbter Bilder lächeln mich unzählige Menschen in weißer Kleidung mit den typischen Frisuren, Brillen und Klamotten der 80er an. Man sitzt beisammen auf dem Balkon in Bretten, trinkt mit den Patienten einen Kaffee. Es gibt Bilder von gemeinsamen Ausflügen, von lustigen Situationen z.B das, von einem voll angezogenen Medizinstudenten – lachend in einer Badewanne.

Wenn sie von diesen gemeinsamen Momenten erzählt, wird ihre Stimme noch ein klein bisschen wärmer, dann schwingt ein Hauch von Wehmut darin mit. Sie hat für ihre Kolleginnen und Kollegen, für ihr Team, für ihre Mannschaft gelebt und immer gerne und mit Herzblut alles gegeben. Jutta Ritzmann-Geipel ist ein derart fürsorglicher Mensch und intuitiver Kümmerer, dass man sich in ihrer Gegenwart regelrecht umsorgt fühlt. Nie zuvor habe ich bei einem Interview über den obligatorischen Kaffee hinaus Schokoriegel, Butterbrezeln und gleich mehrere Getränke zur Auswahl angeboten bekommen. All das entspricht auch genau dem Bild, das viele ihrer Kolleginnen und Kollegen mir gegenüber von Jutta Ritzmann-Geipel zeichnen. Fürsorglich, kollegial und – auch dieser Ausdruck fällt häufig – einfach die Mama! “Mir ist es wichtig, dass sie sich gut fühlen“, sagt Jutta und meint damit eigentlich ihr Team, im Grunde aber wahrscheinlich auch alle anderen.

Bliebe man bei diesem Bild, wäre die Mama heute für sehr, sehr viele Kinder zuständig. Zwischenzeitlich ist Jutta Ritzmann-Geipel Direktorin für Pflege- und Prozessmanagement und damit für den gesamten Pflegebereich in den zwischenzeitlich unter dem Dach der Regionalen Kliniken Holding zusammengeführten Rechbergklinik und Fürst-Stirum-Klinik zuständig. Was sich nach Stress anhört, ist es vermutlich auch, doch irgendwie nicht für Jutta… “Logistik liegt mir” sagt sie und jongliert tatsächlich seit Jahren erfolgreich mit einer Flut an Aufgaben, die manch anderen erschlagen würde. Während unseres Gespräches rüttelt unablässig der Pager über die makellose Oberfläche Ihres Schreibtisches in einem leicht steril anmutenden Büro. Irgendjemand braucht immer irgendetwas von Jutta, die grundsätzlich auch gerne und immer dafür erreichbar ist. Im Falle eines Falles auch mal nachts oder im Urlaub, den sie übrigens gerne damit verbringt, andere Krankenhäuser rund um den Globus zu besichtigen. Das ist Liebe!

Aber all das währt nicht mehr lange. In wenigen Wochen, noch vor Ablauf dieses Jahres, wird sie an den beiden Kliniken ihren Abschied nehmen. Dann geht sie in den Ruhestand, verlässt die beiden Krankenhäuser, in denen sie im Grunde ihr ganzes Leben verbracht hat. “Das wird schon krass“, sagt sie, angesprochen auf jenen Moment, wenn sich die Tür ein letztes Mal hinter ihr schließt. Aber auch: “Ich habe keine Angst” und “man muss den Stab weitergeben und Vertrauen haben”.

So geht eine Bilderbuchkarriere und eine derart unbeschwerte Biografie in ihre nächste Phase, dass man sich an dieser Stelle unweigerlich die Frage stellt: Kann das wirklich sein? Kann denn wirklich alles so glatt über die Bühne gegangen sein, ohne die unweigerlich mit jedem Leben verknüpften Stolpersteine, Täler und dunklen Stunden? Nein, natürlich nicht, aber diese dunklen Stunden sind für Jutta Ritzmann-Geipel irgendwie zu Fußnoten ihrer eigenen Geschichte geworden, die sie ganz nebenbei wie eine unwesentliche Anekdote in ihre Erzählungen einbaut. Wenn sie vom völlig unerwarteten Tod ihres Mannes oder von der eigenen schweren Erkrankung erzählt, die sie nur um Haaresbreite überlebt hat, ändert sich die Farbe in ihrer Stimme nicht, bleibt der Blick klar und unbeirrt. “Ich lasse mich durch nichts runter ziehen“, versucht sie mir diesen Umstand zu erläutern. “Ich bin immer positiv, für mich ist das Glas immer halbvoll”. Ich will ihr das gerne glauben, doch dennoch bleibt in mir die Frage bestehen, ob nicht zumindest an dieser Stelle der Rand eines schwarzen Loches mit bunten Blumen bepflanzt wurde. Wenn eine positive Lebenseinstellung über alle Widrigkeiten hinweg nur durch die Kraft des Willens möglich ist, dann bin ich im Vergleich zu ihr in jedem Fall schwach. Sie geht nach vorne, immer weiter, stets unbeirrbar. Der Blick zurück ist ihre Sache nicht, die Angst für sie kein Hemmschuh.

Angst schwingt in ihrer Stimme tatsächlich nicht mit, wenn sie über das Ende einer Karriere spricht, die mit zarten 13 Jahren begonnen hat. Mit dem Wohnmobil will sie erst einmal vier Wochen lang durch Spanien fahren und dann endlich einmal in ihrem Elternhaus in Oberöwisheim klar Schiff machen. Langweilig wird es ihr auch danach nicht werden… Sie hat schließlich ihren Hund, ihre Freunde und nicht zuletzt ihr Motorrad, mit dem sie während der Urlaube in den letzten Jahrzehnten immer wieder alleine durch das Land und vor allem die Berge gefahren ist. In diesen Tagen genügt Jutta sich selbst, vielleicht eine Art Gegenpol zu ihrem Berufsleben.

Dass sie nun ihren Hut nimmt, ist im Grunde aber ein konsequenter Abschluss der Art und Weise, wie sie gelebt und gewirkt hat. Längst sind die meisten ihrer langjährigen Wegbegleiter, Kolleginnen und Kollegen im Ruhestand, Jutta Ritzmann-Geipel ist als Vertreterin ihrer Generation eine Art “Last woman standing” in den beiden Kliniken des Landkreises. So folgt sie diesen Menschen, mit denen sie so viele Jahre Seite an Seite gewirkt hat, dorthin, wo sie nun sind – in ein Leben nach der Arbeit. Denn auch das ist Jutta – eine durch und durch treue Seele. Mit ihren Klassenkameradinnen geht sie heute noch in ihr altes Landschulheim, trifft ganz regelmäßig die Kolleginnen und Kollegen ehemaliger Stationen, die heute zu Freundinnen und Freunden geworden sind.

Sorgen machen, muss sich um Jutta niemand. Sie kümmert sich, wie sie sich ihr ganzes Leben lang gekümmert hat. Solange da jemand ist, der sie braucht, hat Jutta eine Aufgabe, ein Ziel und ein Feuer, das sie wärmt und heiß in ihrem Inneren lodert.

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3 Gedanken zu „Die Pflegemutter“

  1. Jutta ist die Beste, Sie kümmert sich wirklich um Ihre Leute und Mitmenschen, Sie hat den Herz auf dem Richtigen Fleck ♥️ ich wünsche ihr alles Gute in Ihrem dauerhaften Frei :)

  2. Großer Respekt,
    vor allem vor dem Hintergrund, dass immer mehr weit jüngere Mitarbeiter von Krankehäusern vorzeitig aufhören wegen Überlastung und v. a. dadurch verursachtem schlechtem Arbeitsklima.

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