Das stille Leid im Führerstand

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Immer wieder unterschätzen Menschen die Gefahr und queren wild die Bahnschienen. Kommt es zur Katastrophe leiden nicht nur sie, sondern auch die Lokführenden.

Es ist eine Situation, die man niemandem wünscht, die niemand durchleben sollte. Sie fahren mit Ihrem Auto über die Landstraße oder durch die Stadt, als unvermittelt ein Mensch die Fahrbahn betritt. Sie reagieren so schnell wie möglich, treten auf die Bremse, reißen vielleicht das Lenkrad herum und verhindern mit viel Glück und reichlich Unterstützung durch alle Schutzengel die verhängnisvolle Kollision.

Sitzen Sie allerdings als Lokführer/in im Führerstand eines Zuges, stehen ihre Chancen für einen glimpflichen Ausgang einer solchen Begebenheit wesentlich schlechter. Ein Ausweichen ist unmöglich, der Bremsweg lang. Das Cockpit wird zum Logenplatz, das Gleisbett zur Bühne eines grausamen Dramas, mit oft düsterem Ausgang.

Viel zu oft geschieht dies nicht zufällig, betritt ein Mensch die Gleise in der Absicht sich das Leben zu nehmen. Jedes Jahr sind es EU-weit zwischen 2000 und 3000 Menschen, die auf diese Weise Suizid begehen, die meisten Fälle ereignen sich in Deutschland. Statistisch gesehen besteht eine hohe Chancen, dass jeder Lokführende im Laufe seines Berufslebens mindestens ein solches Ereignis durchleben muss, manche trifft es gleich mehrere Male.

Betritt ein Mensch auf freier Strecke die Gleise, können Lokführende oft nicht mehr viel bewirken. Selbst bei einer sofort eingeleiteten Notbremsung, können bis zu 30 Sekunden vergehen bis das schwere Gefährt zum Stillstand kommt – meist viel zu viel Zeit um die verhängnisvolle Kollision noch abzuwenden. Man möchte sich nicht vorstellen, wie es einem Menschen dort vorne im Führerstand geht, wenn er sehenden Auges auf den Aufprall warten muss. Eine solche Situation kann bei Lokführenden zu schweren psychischen Belastungen und Traumata führen, die auch noch Wochen, Monate und sogar Jahre nach dem Ereignis andauern können. Auch ein Mitglied dieser Redaktion wurde vor vielen Jahren Zeuge eines solchen Vorfalls, sah aus nächster Nähe welche Auswirkungen der Aufprall einer tonnenschweren Lok auf einen menschlichen Körper hat. Die Bilder haben sich nachhaltig auf seiner Netzhaut eingebrannt, noch Wochen später zu Unruhezuständen und Schlaflosigkeit geführt. Wie schwer muss erst die Last wiegen, diesen Vorgang aus dem Führerstand zu erleben, selbst ein Teil davon zu werden. Die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein können zu einem Trauma führen, beschreibt 2019 ein Psychiater aus Baden-Württemberg im Interview mit der Zeit die möglichen Folgen. Demnach könne auch Wochen nach dem eigentlichen Vorfall eine posttraumatischen Belastungsstörung auftreten, die für die Betroffenen quälend ist.

Doch sind es bei weitem nicht nur Menschen die in psychischem Ausnahmezustand die Gleise betreten, sondern auch viel zu oft solche, die unbedarft und fahrlässig z.B. die Gleise queren wollen. Unfälle dieser Art geschehen immer wieder, auch in unserer Region sind sie keine Seltenheit. Erst am vergangenen Sonntag musste ein Lokführer eine Notbremsung einleiten, weil kurz vor dem Bahnhof Karlsruhe mehrere Menschen im Gleisbett unterwegs waren. Wie die Bundespolizei mitteilt, musste der Streckenabschnitt eine Stunde lang gesperrt werden, der Lokführer erlitt durch den Vorfall einen Schock und musste abgelöst werden. Um ihr Personal und Betroffene in solchen Ausnahmesituationen zu betreuen, hat die Bahn entsprechende Programme und Interventionsmaßnahmen auf den Weg gebracht, die psychologische und praktische Hilfe schnell und unbürokratisch ermöglichen. Die Arbeit dieses Psychologischen Dienstes wird umso bedeutsamer, ruft man sich die nackten Zahlen vor Augen: Im Durchschnitt ereignen sich pro Tag zwei bis drei Personenunfälle, jede/r Lokführende erlebt durchschnittlich zwei davon im Laufe des Berufslebens.

Auch wenn es am Sonntag in Karlsruhe zu keiner Kollision kam, ist dies leider nicht immer so. Erst im Herbst vergangenen Jahres erfasste am Bahnhof Durlach ein französischer TGV einen Mann, der über die Gleise geklettert war und verletzte ihn tödlich. Wenige Monate zuvor ereignete sich ein ähnliches Unglück mit einer S-Bahn in Weingarten.

Das wilde Überqueren der Gleise ist in vielerlei Hinsicht eine äußerst ungute Idee. Zum einen können sich Züge mit hoher Geschwindigkeit nähern, die aus Unachtsamkeit nicht rechtzeitig bemerkt werden, zum anderen handelt es sich bei solchen Gleisquerungen auch um Ordnungswidrigkeiten, im Falle einer konkreten Gefährdung des Bahnverkehrs sogar um Straftaten.

Doch abgesehen von den handfesten physikalischen und den juristischen Konsequenzen, gibt es eben auch noch diesen weiteren Umstand, den viele Menschen nicht mit einbeziehen: Züge werden von Menschen gelenkt. Menschen die unfreiwillig eine Rolle bei diesen fatalen Begegnungen spielen müssen, die danach damit leben müssen. So kann selbst die lapidare Motivation etwas Zeit und Weg zu sparen in Bruchteilen von Sekunden für die einen Lebenswege beenden, für die anderen nachhaltig verändern.

Hinweis: In diesem Beitrag behandeln wir mitunter das Thema Suizid. Der Pressekodex, dem auch wir uns verpflichtet haben, sieht in diesem Fall Vorsicht und Zurückhaltung vor. Aufgrund der immer wieder von neuem gegebenen Aktualität der in diesem Beitrag behandelten Umstände, haben wir uns in diesem Fall für die Berichterstattung entschieden. Sollten Sie sich selbst depressiv fühlen oder sich gar mit Suizid-Gedanken konfrontiert sehen, zögern Sie bitte nicht länger und kontaktieren Sie die Telefonseelsorge online oder über die kostenlose Hotlines 0800-1110111 / 0800-1110222 / 116-123.

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2 Gedanken zu „Das stille Leid im Führerstand“

  1. Als Reisender in einem Zug hatte ich vor vielen Jahren etwas ähnliches erlebt. Ein Mensch wurde im Bahnhof Göppingen von einem Zug erfasst. Deshalb konnte der Zug mit dem ich unterwegs war den Bahnhof nicht regulär verlassen. Wartezeit war angesagt.
    Noch heute – 18 Jahre später – werden die Erinnerungen wieder wach., beim lesen des Artikels.

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