Alles in Ordnung

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Struktur und Ordnung sind die großen Eckpfeiler in Nadines Leben, so groß, dass sie beide zum Beruf gemacht hat

Wer Nadines kleines Reich, ein windschiefes altes Bauernhäuschen in Bruchsals wirklich altem Herzen, betritt, der fühlt sich augenblicklich wohl. Alles hier drin ist gemütlich, warm und einladend gestaltet, verbindet den schrulligen Charme eines Hexenhäuschens mit viel Gefühl für Stil und Ambiente. Es ist ein durch und durch weiblicher Ort: Es duftet nach Ölen und Potpourri, es gibt weiche Tagesdecken auf den Polstermöbeln, kleine Bilderrahmen an der Wand, manche mit motivierenden Bonmots und Sprüchen gefüllt. Auf den ersten Blick scheint es kaum vorstellbar, dass hier auch zwei ausgewachsene Teenager hausen. Dafür ist es in den verwinkelten und übereinander angeordneten Räumen einfach viel zu ordentlich, viel zu aufgeräumt.

Letzteres ist kein Zufall, kein sich willkürlich ergebender Effekt, sondern vielmehr Nadines primäres Attribut, etwas, das ihr zutiefst zu eigen ist. Es heißt, Ordnung sei das halbe Leben, aber für Nadine ist sie weit mehr als das. Die Ordnung ist ein Zustand, der ihr Halt gibt, der ihr Freude macht, den sie zu ihrer Berufung erhoben hat – und das sogar im beruflichen Sinne. Während manch einer die Beherrschung des Chaos als Geniestreich versteht, sucht Nadine vielmehr Sinn und Erfüllung in dessen Gegenteil – in vollkommener Ordnung. Dabei geht es um mehr als nur um Aufräumen, es geht darum, jedem Ding, jedem Gegenstand seinen Platz zuzuweisen, ein System zu erschaffen, in dem man sich leicht zurechtfinden kann, das den Alltag erleichtert und dadurch ein Stück weit helfen kann, zur Ruhe zu finden – sei es zur äußeren, vielleicht aber auch ein Stück weit zur inneren.

Wenn man Nadines kleines Häuschen in der Württemberger Straße als Blaupause für ihre Idee, ihre Schaffenskraft begreifen mag, dann weiß das Ergebnis sofort zu gefallen. Es fühlt sich beruhigend an, hier Platz zu nehmen, ihr zuzusehen, wie sie einen Kaffee zubereitet, dabei zielsicher die Zutaten aus – alles andere als zufällig gewählten – Schränken und Schubladen zieht. Auch Nadine selbst ist eine durch und durch angenehme Erscheinung und eine offenherzige Gesprächspartnerin. Sie ist bemüht darum, ihrem Gegenüber höflich und auf Augenhöhe zu begegnen, hört dabei wirklich und wahrhaftig zu, anstatt – wie heute so oft üblich – einfach nur einseitig Informationen übermitteln zu wollen. Sie erzählt von ihrer griechischen Mutter, die mit elf Jahren nach Deutschland kam und dort einen Mann kennenlernte und heiratete. Nadines Papa ist in Bruchsal bekannt wie ein bunter Hund. Seit fast einem halben Jahrhundert betreibt er nur ein paar Häuser weiter ein Elektrogeschäft, das sich gegen jeden Trend und jede Online-Konkurrenz immer noch tapfer zu behaupten weiß.

Sie erzählt von ihrer Kindheit und der liebevollen, aber bestimmten Hand der Mutter, welche die Kinder – Nadine und ihre beiden Brüder – in Sachen Haushalt stark in die Pflicht nahm. Es galt, Reinlichkeit zu bewahren, galt die Dinge in Ordnung zu halten. Spätestens jetzt dürfte sich allmählich herauskristallisieren, wieso Nadine sich gerade diese Attribute zu eigen gemacht hat. Struktur und Ordnung spielten eine große Rolle in ihrem Elternhaus. Als sie mit der Schule fertig war, folgte sie – noch im Nebel der nun plötzlich weit offenen Zukunft – dem durch und durch gut gemeinten, aber auch sehr konservativen Wunsch ihrer Eltern und begann eine Ausbildung bei der Stadt Bruchsal. Ein Nine-to-Five-Job, Verwaltungstätigkeit, vorhersehbare Tage und wenig Überraschungen bestimmten danach ihren Berufsalltag. So begann eine klassische Verwaltungslaufbahn – nur zweimal unterbrochen durch die Geburt ihrer beiden Söhne. Diesen Weg hätte Nadine freilich weitergehen können, vorherbestimmt bis zu seinem quasi per Blaupause definierten Ende, ein paar Anpassungen der tariflichen Bezüge und ansonsten nur wenigen Peaks in der Vita. Passt doch, könnte man meinen, Struktur und Ordnung sind doch genau ihre Sache!

Aber so verhält es sich dann eben doch nicht. Menschen sind keine eindimensionalen Wesen, Nadine schon lange nicht. So wie sie die Ordnung liebt, liebt sie auch das Neue, das Entdecken, aber auch das Wilde und Entfesselte. In ihrer Freizeit tanzt sie gerne Flamenco, vermutlich einen der emotionalsten Tänze überhaupt auf dieser Welt. Er verkörpert mit seiner Pasión eine unbändige Leidenschaft, erzählt in seiner Melancolía von tiefem Schmerz und Sehnsucht, strahlt in seinem Orgullo stolze Stärke aus, lädt mit seiner Alegría zum Feiern des Lebens ein, zeigt in seiner Ira den rebellischen Geist und offenbart in seiner Devoción eine hingebungsvolle Intimität.

Nadine setzt also irgendwann, als die beiden Kinder zwar noch nicht erwachsen, aber groß und eigenständig sind, alles auf einen Neubeginn. Sie fängt an, ihre Leidenschaft für Ordnung und System in ein berufliches Modell zu gießen. So schafft sie bei ihren Klienten dort Ordnung, wo bislang eher Planlosigkeit oder in manchen Fällen vielleicht sogar etwas Chaos vorherrschte. Sie sieht sich die Ausgangssituation in fremden Heimen an, überlegt, welche Ordnung hier individuell für die Hausbewohner Sinn ergeben würde. Sie räumt Kleiderschränke aus, füllt diese erneut mit Sinn und Verstand, tut Selbiges in Küchen, in Werkstätten, in Abstellräumen oder in ganzen Büros. Es geht nicht um Aufräumen, Sortieren oder schnödes Reinemachen, es geht vielmehr um die komplette Restrukturierung der Dinge.

Was sich für manche vielleicht wie ein exotischer Spleen, ein temporäres Phänomen anhören mag, verfängt bei der Kundschaft aber durch und durch – und das sogar nachhaltig. Tatsächlich ist Nadines Terminkalender mittlerweile gut gefüllt. An nicht wenigen Tagen ist sie in drei oder vier Häusern und Wohnungen zugange, verwandelt einen losen Haufen Puzzleteile in ein Bild mit Aussage und Substanz. Etwa 50 Euro nimmt sie dafür auf die Stunde – für ihre in der Regel nicht schlecht situierte Kundschaft kein Thema. 300–400 Klienten hat sie mittlerweile betreut, die Nachfrage nach Nadines Dienstleistung ist auch sechs Jahre nach der Existenzgründung ungebrochen.

Skepsis gegenüber ihrer Tätigkeit – sie bezeichnet sich selbst als „Aufräumcoach“ – kennt sie nur zu gut. „Ich hatte ganz, ganz viele Menschen um mich herum, die gesagt haben: ‚Ach, so ein Scheiß, das klappt doch nie‘,“ lacht sie, denn heute weiß sie es besser. Nadine gibt sich aber auch keinen Illusionen hin – was sie anzubieten hat, gehört zu den ersten Dingen, die im Falle eines knappen Budgets hinten herunterfallen. „Es ist eine Luxusdienstleistung, es ist nichts, was der Mensch jetzt unbedingt braucht,“ weiß sie. Dennoch hat sich ihre Idee alles andere als eine Eintagsfliege entpuppt; fast täglich kommen neue Anfragen.

Der Grund dahinter dürfte auch ein Stück weit in der menschlichen Psychologie begründet sein. Aufräumen im Äußeren steht eben auch für Aufräumen im Inneren. „Alles hat seinen festen Platz,“ sagt Nadine und meint damit nicht nur Hosen oder Hemden im Kleiderschrank. Es geht auch darum, sich von manchen Dingen zu verabschieden, sich von solchen Dingen zu trennen, die man im Grunde nicht mehr benötigt. „Ich helfe meinen Kunden beim Loslassen,“ sagt Nadine – und Loslassen kann eben auch wirklich befreiend sein.

Dennoch sind Struktur und Ordnung nur dann von Nutzen, wenn sie auch langfristig bewahrt werden. Manche Kunden buchen Nadine immer wieder, andere verinnerlichen ihr System schon nach dem ersten Mal. Das erfordert ein Stück weit Mut, die Abkehr vom Gewohnten, genauso wie das Loslassen selbst. Leicht ist das nicht, auch Nadine hadert beruflich noch mit dem vollständigen Sprung ins Ungewisse. Noch arbeitet sie in Teilzeit bei der Stadt, möchte sich aber im Grunde gerne nur noch ihrer freien Tätigkeit widmen. „Ich möchte einfach den Schritt wagen, es ganz zu machen,“ sagt sie, aber noch hält sie etwas zurück. Seien es die 26 Jahre, die sie nun im Rathaus arbeitet, oder eben auch die vertrauten Strukturen – und ja, auch die Ordnung, die sich daraus speist. Doch so gut sie sich in ihrem Leben auch bereits eingerichtet und sortiert haben mag – irgendetwas Großes wird noch kommen, weiß Nadine, das spürt sie genau. „Also irgendwas Außergewöhnliches werde ich sicherlich noch machen,“ sagt sie – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln.

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7 Gedanken zu „Alles in Ordnung“

  1. Liebe Redaktion,

    vielen Dank für den Artikel. Ich lese eure Berichte sehr gerne.

    Leider bin ich über zwei Aspekte gestolpert die mir nicht gefallen.

    Zum einen wird neuerdings bei euch der Autor des Artikels nicht mehr genannt. Dies entspricht nicht den journalistischen Standards.

    Zum anderen enthält die Einleitung dieses Berichts eine unerfreuliche und sexistische Zuordnung von Eigenschaften zu Geschlechtern:

    „Es ist ein durch und durch weiblicher Ort: Es duftet nach Ölen und Potpourri, es gibt weiche Tagesdecken auf den Polstermöbeln, kleine Bilderrahmen an der Wand, manche mit motivierenden Bonmots und Sprüchen gefüllt.“

    Warum ist der Duft nach Ölen und weiche Tagesdecken nur dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen? Im Umkehrschluss wäre es unmännlich, wenn auch ein Mann hieran ein Interesse hat? Die Zuordnung ist ausgrenzend und verstärkt überbrachte Rollenbilder von Männer und Frauen. Ich sehe nicht, dass der Wunsch nach einem schönen Zuhause, weichen Decken und Gemütlichkeit eine weibliche Eigenschaft ist. Hier wird ein überkommenes Rollenbild beschrieben.

    Ich wünsche mir von einem lokalen Onlinemagazin, welches sich ansonsten oft mit kritischen Themen (und dies sehr gut) auseinandersetzt, dass sich ein sprachliches Problembewusstsein auch durch die sonstigen Artikel zieht.

    Sofern die Beschreibung jedoch gewollt so erfolgt ist, dann sollte der Autor im Artikel zwingend genannt werden, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, das konservative Profil des Autors erkennen und einordnen zu können.

    Viele Grüße

    Nicolai

    • Lieber Nicolai,

      danke für dein Feedback, auf das ich gerne eingehe.

      Zur Nennung des Autors: Da hast du recht, mea culpa – ich vergesse das einfach regelmäßig, ohne irgendwelche Hintergedanken. Du kannst generell davon ausgehen, dass, wenn ein Text nicht mit einer konkreten Quelle oder einem Autor versehen wurde, er mit großer Wahrscheinlichkeit von mir stammt. Unser Team ist schließlich überschaubar.

      Was deinen anderen Punkt angeht: Ganz ehrlich, ich sehe hier keinen Sexismus – kaum etwas läge mir ferner. Es ist für mich auch eine Fehlannahme, dass das Attribut „weiblich“ zwangsläufig nur Frauen vorbehalten sein soll.

      Die Beschreibung „ein durch und durch weiblicher Ort“ bezieht sich nicht auf ein festgelegtes oder eingeschränktes Rollenbild, sondern auf Eigenschaften, die traditionell mit Weiblichkeit assoziiert werden – wie etwa eine Liebe zum Detail, ein Gespür für Atmosphäre oder das Schaffen von Wohlfühlmomenten. Solche Attribute sind jedoch keinesfalls ausschließlich Frauen vorbehalten, sondern können selbstverständlich von allen Menschen unabhängig vom Geschlecht verkörpert und geschätzt werden.

      Um das zu illustrieren: Ich habe früher mein gesamtes Taschengeld im „Spinnrad“ gelassen, um Duftöle, Potpourris, Zierdecken und Deko-Nippes zu kaufen, um mein Zimmer auszugestalten – und empfand dabei keineswegs, dass das irgendetwas mit meinem Geschlecht zu tun hätte. Im Sommer empfinde ich darüber hinaus einen (Schotten-)Rock als angenehm, was vielleicht auch als „weiblich“ gelesen werden könnte. Solche Eigenschaften und Vorlieben sind für mich universell und eben nicht auf Frauen beschränkt.
      Mein Ziel war es, die Atmosphäre dieses Ortes anschaulich zu beschreiben – nicht, um jemanden auszuschließen oder Klischees zu verstärken.

      Wenn dir dieser eine Satz jedoch bereits reicht, um mir ein konservatives Profil zuzuschreiben, kann ich daran wohl nichts ändern. Ich hoffe aber, dass meine Erläuterung zu einer differenzierteren Betrachtung beiträgt.

      Herzliche Grüße
      Stephan Gilliar / Herausgeber hügelhelden.de

      • Lieber Stephan,

        ich bedanke mich für die Richtigstellung.

        Ich sehe deinen Punkt, gebe jedoch weiterhin zu bedenken, dass deine subjektive Definition der Nutzung des Wortes „weiblich“ wohl nicht der allgemeinen Definition entspricht und daher geeignet ist, deinen Text diesbezüglich missverstehen zu können.

        Gerade im Hinblick auf die derzeitigen Entwicklungen halte ich es für geboten, sich deutlich gegen eine Rückwärtsgewandtheit in Bezug auf das Rollenverständnis von Frau / Mann / divers zu stellen. Hierzu gehört unter Umständen auch, noch deutlicher über die Wirkung von Bezeichnungen nachzudenken. Es gibt eine zunehmende Strömung die eine Rückkehr zu „traditionellen“ Rollenbildern fordert (Stichwort „trad wives“). Indem man ggf. unbedarft gewisse Zustände oder Eigenarten als „weiblich“ beschreibt, fördert man eine zusehende Unterscheidung im Sprachgebrauch.

        Für mich hatte die Einordnung eines Szenarios in der ersten Zeilen eines Artikels als „weiblich“ sehr wohl den Eindruck erzeugt, dass der Autor eine klassische Unterscheidung in männliche und weibliche Eigenschaften vornimmt und damit eher dem konservativen Spektrum zuzuordnen ist. Dies wurde nun durch deinen Kommentar richtig gestellt.

        Ich bedanke mich für deine offenen Worten und deine Arbeit die du hier leistest.

        Viele Grüße

        Nicolai

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