Der Tod des Stammtisches

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Eine uralte Kneipen-Tradition blutet aus

Ein Nachruf von Philipp Martin

Einsam und verlassen stehen sie da, in immer mehr und viel zu vielen Kneipen und Gaststätten überall im Hügelland. Die schweren, wuchtigen Tische mit ihren abgenutzen Stühlen und dem zinnernen Aschenbecher mit dem Schriftzug “Stammtisch” darüber. Früher Rückzugsort und Refugium für – sind wir ehrlich – im wesentlichen Männer nach einem langen Arbeitstag, heute das Relikt einer anderen, verblassenden Zeit.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mein Papa mich in den 80ern hin und wieder mitgenommen hat, in den Adler nach Hagsfeld zu seiner Stammtischrunde. Schon beim Betreten der urigen Gaststätte konnte man die Luft regelrecht zerschneiden – am großen eichernen Stammtisch lag vor jedem der Kerle ein weiches Päckchen Kurmark oder Ernte 23, die Hartgesottenen rauchten Roth-Händle. Die Kippe in der einen Hand, die Biertulpe in der anderen (2,50 Mark das Glas), wurde gequatscht, geschimpft, gewitzelt, diskutiert, mal leise aber meistens laut. Der alte Edgar mit seinem Gehstock und den speckigen Budapestern – einer der Stammtischbrüder von meinem Papa – kaufte mir immer ein Päckchen Erdnüsse oder eine Tafel Schokolade aus der Vitrine auf dem Tresen… so saß ich da und sah den Kerlen beim immer fröhlicher und breiter werden zu. Für mich war das damals die normalste Sache der Welt, der Ritt zurück nach Hause auf den Schultern meines Papas, die Hände unter seinem stoppelbärtigen Kind verschränkt, eine der schönsten Sachen der Welt.

Letzte Runde, Männer! - Das Wirtshaussterben im Kraichgau

Heute wird in den Kneipen nur noch selten geraucht, Kinder spät am Abend dorthin mitzubringen ist gesellschaftlich längst geächtet und die Jungs am Stammtisch sind weitergezogen. Der Todesstoß für viele dieser geselligen Runden war ein kleines Virus, das in den letzten zwei Jahren unser Zusammenleben schwer beschädigt hat. Zwar haben Gaststätten und Kneipen schon lange nicht mehr die Funktion, die sie früher einmal hatten – als Treffpunkt und zweites Wohnzimmer für ganze Dörfer – doch Captain Covid hat auch bei den verbleibenden Resten dieser Ära ganze Arbeit geleistet. Zum Beispiel bei Andy in Eppingen. Seine Altstadtkneipe ist im Grunde ein riesiger Stammtisch, der mächtige Tresen zieht sich durch den ganzen Gastraum. Vor Corona war es hier an jedem Abend rappelvoll, viele der Gesichter waren immer die gleichen und das seit Jahrzehnten. Treue Gäste waren eines der vielen Aushängeschilder von Andy, doch in den Wirren der unzähligen Lockdowns und der vielen, vielen Schließungen, gingen manche von Ihnen einfach verloren. “Die treffen sich jetzt privat zu Hause, in Hobbykellern, auf der Terrasse oder in der Scheuer” erzählt Andy traurig. An eine baldige Rückkehr seiner Stammgäste glaubt der erfahrene Kneipenwirt nicht, viele von ihnen hadern mit den Auflagen der Corona-Verordnung. “Wer will schon einen aufwendigen Test machen, nur um ein Bier zu trinken”, denn auch die davon befreiende Impfung ist ein umstrittenes Thema.

Genau das gleiche Phänomen, beobachtet auch Barbara Leitzig in der Mingolsheimer Hubertusklause. Nach der zögerlichen Wiedereröffnung im Heckwasser der letzten Corona-Welle, kamen viele Stammgäste einfach nicht mehr wieder, der Stammtisch seither – verwaist und leer. “Das ist einfach nur traurig, wenn man sich überlegt wie lange diese Traditionen hier schon andauert” erzählt die Wirtin und seufzt frustriert über diese schmerzhaften Nachwehen der langen Schließungen.

So nachvollziehbar das auch aus Sicht der Gäste hier und da sein mag, fair gegenüber den Wirtsleuten ist es nicht. Sie können nichts für die Auflagen, die ihnen aus Stuttgart übergestülpt werden. Niemand will seine Gäste gängeln oder drangsalieren, die Regeln werden anderswo gemacht. Mit jedem Tag, an dem die Stammgäste ihrem einstigen Stammlokal fernbleiben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Zustand unumkehrlich wird. Neben ihren Gästen, fehlt den Wirtsleuten natürlich auch das Einkommen, das diese ermöglicht haben. Gastronomen, viele von ihnen zumindest, waren auch schon vor der Krise finanziell nicht auf Rosen gebettet, gerade die kleinen Dorfkneipen werden im Grunde nur von Spucke, Herzblut und persönlichem Engagement zusammengehalten.

Noch ist es hier und da vielleicht nicht zu spät, doch wer nun nicht zurückkehrt in seine Kneipe, sein Wirtshaus, seinen Platz an der Sonne – der wird ihn eher früher als später miterleben – den Tod des Stammtisches.

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