In Kraichtal lagerten einst gigantische Mengen an Vorräten und Ausrüstung für das Unvorstellbare
Als Ulrich Frank in den jungen 80er Jahren das merkwürdigste Jobangebot seines Lebens erhielt, standen die großen Lagerhallen an der Ecke Jedermannstraße und Professor-Hubbuch-Straße in seinem Heimatort Neuenbürg schon mehrere Jahre. Bereits in den Siebzigern war der massive und anonyme Zweckbau innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft worden. Was sich hinter den massiven Toren und dem dreifachen Stacheldraht abspielte, darüber gab es im Dorf allenfalls Gerüchte. Regelmäßig kamen Lastwagen von außerhalb, wurden beladen und entladen, fuhren wieder fort. Etwa 1983 trat, nachdem der Kontakt über einen Bekannten in der Polizeidirektion Karlsruhe zustande gekommen war, das damals noch junge Bundesamt für Zivilschutz aus Bonn an Ulrich Frank heran und bot ihm eine Tätigkeit als Hausmeister in der bundeseigenen Einrichtungen in Neuenbürg an. Darüber reden durfte er damals allerdings nicht, bei seiner Vereidigung verpflichtete er sich gegenüber dem Staat zu Stillschweigen über seine Tätigkeit und alles was damit zusammenhing.
Heute, fast vier Jahrzehnte später, erinnert sich der 59-Jährige immer noch gut an jene Tage, die auch im kleinen Kraichtal ein kleines Puzzlestück im großen Bild der damaligen Weltgeschichte waren. Während des kalten Krieges und dem Kräftemessen der beiden Weltmächte Sowjetunion und USA, rückte zwischen 1947 und 1989 die Möglichkeit eines massiven, militärischen Konfliktes in greifbare Nähe. Höhepunkt dieser durch und durch realen Gefährdung war die Kubakrise 1962, als nur Sekunden die Menschheit vor dem Ausbruch eines dritten Weltkrieges trennten. Um im Katastrophenfall die Versorgung der Menschen in Deutschland aufrechterhalten zu können, richtete die Bundesrepublik damals zahlreiche Lagereinrichtungen ein, wo entsprechendes Material und Vorräte gebunkert wurden. In der unscheinbaren Halle am Neuenbürger Ortseingang hortete man nicht nur mehrere komplette Einrichtungen für ganze Not-Krankenhäuser, sondern auch massenhaft medizinische Vorräte. Bis zur Decke stapelten sich Kisten mit Medikamenten aller Arten, Infusionsflaschen und chirurgischer Ausrüstung – auch in mehreren großen Kühlkammern lagerten Medikamente für den Katastrophenfall. Für das Szenario eines nuklearen Fallouts befanden sich dazu in Neuenbürg zudem gigantische Mengen an Jodtabletten, die im Notfall an die Bevölkerungen hätten ausgegeben werden können.
Zur Ulrich Franks Aufgaben zählte es damals den Bestand dieser Medikamente zu überwachen und deren regelmäßigen Austausch zu veranlassen. So führte er akribisch Buch über alle in Neuenbürg gelagerten Materialien und Präparate, koordinierte die Ankunft der Lastwagen und den Austausch abgelaufener Substanzen. Über 10 Jahre prägten diese Tätigkeiten seinen Alltag, über den er aber weder mit seiner Familie noch mit seinen Freunden im Detail reden durfte. Als Anfang der 90er Jahre die Sowjetunion zerfiel, entspannte sich die weltpolitische Lage merklich. Einrichtungen wie jene in Kraichtal wurden fortan nicht mehr benötigt und so löste das zuständige Regierungspräsidium die Neuenbürger Lagereinrichtung Mitte der 90er Jahre auf. Das gelagerte Material soll anschließend zu Übungszwecken in Krankenhäusern zum Einsatz gekommen sein, teilweise auch als Hilfslieferungen während der Jugoslawienkriege, so zumindest wurde es damals Ulrich Frank zugetragen. Die Halle selbst stand lange Jahre leer und beherbergt heute mehrere, kleinere Betriebe.
Heute arbeitet Ulrich Frank immer noch an der Ecke Jedermannstraße und Professor-Hubbuch-Straße – allerdings auf der anderen Straßenseite. Als KFZ Mechaniker repariert er im Autohaus seines Bruders Fahrzeuge, wechselt Reifen und füllt Motoröl nach. An seine Zeit im großen Lagerkomplex gegenüber, kann er sich aber noch gut erinnern – an jene Tage als der Kalte Krieg nach Neuenbürg kam.