Für die Verkehrswende in den Kraichgau-Dörfern wird erst eine Tragödie sorgen
Eine Kolumne von Thomas Gerstner
Leute, ganz ehrlich, wenn ich mir die alten Bilder anschaue die mein längst verblichener Opa akribisch und sorgfältig beschriftet in das alte stoffüberzogene Fotoalbum eingeklebt hat, wird mir manchmal das Herzerl ganz schwer. Die Bilder zeigen einen alten, ländlichen Kraichgau, in dem die Uhren langsamer zu laufen schienen und das Leben sich auf seine wesentlichen Kernelemente beschränkte. Die Dörfer waren klein, überall gab es noch Bäcker, Metzger und Gasthäuser – selbst im noch so winzigsten Weiler. Dass es große Städte mit brummenden Industriegebieten irgendwo in der Ferne gab, davon nahm man zwar am Rande Notiz, für den eigenen Alltag spielte das aber keine Rolle. Auf den Straßen spielten die Kinder und alle halbe Stunde tuckerte mal gemächlich ein Traktor vorbei.
Wohnburg und Durchfahrtsgebiet für die großen Städte
Zugegeben, bei diesem Rückblick lag die rosa Brille fest auf meiner Nase und der Hebel für den Nostalgiemodus auf Anschlag. Im Großen und Ganzen stimmt es aber vermutlich wenn ich behaupte, der Kraichgau war damals eine ruhige und entschleunigte Gegend ohne viel Trubel und Hektik.
Heute hat sich dieses Bild völlig gewandelt. Wir sind nicht länger ein isolierter Haufen einfach gestrickter Landeier, sondern vielmehr ein Haufen einfach gestrickter Landeier in einem zur Trabanten-Siedlung gewordenen Vorstadt-Revier, der sich selbst großkotzig als Technologie-Region und Metropolregion bezeichnenden Hotspots im Northern Ländle.
Versteht mich nicht falsch, es ist nichts verkehrtes daran in einer wirtschaftlich aufstrebenden und reichen Region zu leben. Es ist auf jeden Fall allemal besser als irgendwo im wilden Osten abgehängt vor sich hin zu vegetieren und als erfolgreichsten Exportschlager rechtes Gedankengut zu produzieren. Das Problem ist nur, das Wachstum überfordert unsere kleine Ecke der Welt sichtlich – das zeigt sich ganz besonders an der Entwicklung des Straßenverkehrs im Kraichgau.
Wir brauchen keine neuen Straßen
Schon längst wälzen sich Kolonnen an Lastwagen durch unsere Dörfer um den chronisch verstopften Bundesstraßen und Autobahnen zu entgehen. Nichts gegen LKW-Fahrer, die Jungs machen auch nur ihren Job und können nichts dafür dass der Ausbau der großen Verkehrswege lange verschlafen wurde, aber wenn ich sehe wie sich Tag für Tag eine Armada von 40-Tonnern, Stoßstange an Stoßstange durch viel zu enge Dorfstraßen wälzt, geht mir jedesmal das Messer in der Tasche auf.
Allerorten hört man, es müssen neue Straßen her um dem Problem Herr zu werden… Mit Verlaub, das halte ich für gequirlten Bullshit. Neue Straßen bringen unweigerlich neuen Verkehr mit sich. Wenn die Schwarmintelligenz bemerkt dass es irgendwo viel besser flutscht, wird man immer den Weg des geringsten Widerstandes wählen. Es gilt vielmehr die bestehenden Verkehrswege auszubauen und die kleinen Ortschaften konsequent für den überregionalen LKW-Verkehr zu sperren. Punkt. Aus. Auch wenn der ADAC behauptet nur mit einem massiven Straßenbauprogramm dem Stau-Problem in Deutschland Herr zu werden, widersprechen dem renommierten Forscher. Schon vor zehn Jahren hielten zwei kanadische Verkehrsökonomen im Handelsblatt dagegen, die einfache aber handfeste Erkenntnis: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten.
Dicke Laster 50 Zentimeter neben Kinderköpfen
Doch auch wenn der Verkehr im Kraichgau mehr und mehr zunimmt, es geschieht fast nichts um dagegen etwas zu unternehmen. In manchen Dörfern geht der Wahnsinn soweit das Schulkinder ihren Schulweg auf kaum mannsbreiten Gehwegen antreten müssen, während – und das ist keine erfundene Zahl – nur 50 cm neben ihren Köpfen die Auflieger dicker LKW vorbei donnern. Damit nicht genug, es gibt auch durchaus Ortsdurchfahrten in denen die Kurven dieser kleinen Sträßchen derart scharf sind, das besagte Auflieger beim Abbiegevorgang deutlich in den Bereich der Gehwege ausscheren. Ich kann es ehrlich gesagt kaum fassen, dass es hier bislang noch zu keinen schweren Unfällen gekommen ist.
Noch mal zum Mitschreiben, unsere Behörden nehmen stillschweigend den Umstand hin dass ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen Kinder in unmittelbarer Nähe zu tonnenschweren Lastfahrzeugen ihren Schulweg absolvieren müssen. Schon ein kurzes Stolpern, ein kleiner Schritt zur Seite könnte hier die Katastrophe bedeuten. Es sind dieselben Instanzen die im Gegenzug in anderen Bereichen einen Bürokratiewahnsinn erster Güte veranstalten. Jene die wegen des Brandschutzes Christbäume auf Weihnachtsmärkten verbieten oder für Millionen von Euro irgendwelche Eidechsen umsiedeln lassen, damit sie von lauten Bauarbeiten nicht gestört werden. Diesen Gegensatz kann man sich nur auf der Zunge zergehen lassen, aber Vorsicht: der Geschmack ist äußerst bitter.
Nachgehakt bei den Behörden
Die Kollegen aus der Redaktion waren so nett für mich genau diese Frage an die Behörden weiterzuleiten. Wir wollten vom Landkreis wissen ob man den LKW Durchgangsverkehr in den kleinen Ortsdurchfahrten nicht einfach verbieten könnte, um nur noch jenen Lastwagen die Einfahrt zu gestatten die auch tatsächlich im Dorf etwas zu tun haben. Zudem wollten wir wissen, wie sich die Tatsache dass schwere LKW auf extrem schmalen Gehsteigen die Köpfe von Schulkindern mit einem Abstand von weniger als 50 cm passieren, mit den ansonsten so hohen Sicherheitsauflagen in allen anderen Bereichen des täglichen Lebens in diesem Land vereinbaren lässt. Als konkretes Beispiel haben wir hierbei die Ortsdurchfahrten der Landesstraße 554 angegeben.
Kleiner Spoiler: Die Antworten werden sie nicht zufrieden stellen.
So lautet jene auf unsere erste Frage, dass die Anordnung eines LKW-Verbotes voraussetzt, dass nicht an anderer Stelle Gefahrenpunkte geschaffen werden. Ein solches LKW-Verbot im Bereich der L 554 würde demnach eine Verkehrsverlagerung auf die nördlich verlaufende L552 mit sich bringen. Somit würden insbesondere die Ortsdurchfahrten von Stettfeld, Zeutern und Odenheim mit zusätzlichem Lkw-Verkehr belastet werden.
Klar, das will niemand, aber pragmatisch übersetzt bedeutet das im Klartext: Solange bei einer solchen Änderung Schulkinder in Ubstadt-Weiher oder Östringen gefährdet würden, gefährdet man stattdessen zwangsläufig weiterhin die Kinder in Kraichtal.
Immerhin, seit der Einführung der LKW Maut werden auf beiden Landesstraßen Verkehrszählungen durchgeführt um zu klären ob sich seither das Verkehrsaufkommen verschlechtert hat. Die Ergebnisse sollten laut Landratsamt eigentlich bereits vorliegen, das Ganze verzögert sich nun aber wohl bis zum Jahresende, obwohl sich die Gemeinden Ubstadt-Weiher und Kraichtal für eine schnellere Veröffentlichung der Ergebnisse eingesetzt hatten. Welche Konsequenzen dann aus den entsprechenden Zahlen gezogen werden sollen, bleibt abzuwarten.
Auf die Frage nach der Sicherheit der Kinder gab das Landratsamt zu bedenken, dass auf den kritischen Abschnitten in den Ortschaften aus Sicherheitsgründen das Tempo bereits auf 30 Stundenkilometer begrenzt wurde.
Das unvermeidliche Drama
Ich weiß nicht wie es euch geht, mich stellen beide Antworten nicht zufrieden. In einem Land das derart auf Sicherheit bedacht ist wie unser überkorrektes Baden-Württemberg, sollten solche zur traurigen Alltagsrealität gewordenen Situationen doch eigentlich nicht mehr möglich sein. Ob einem Schulkind bei Tempo 30 oder Tempo 50 der Schädel eingedrückt wird, macht für mich hierbei keinen wirklich großen Unterschied.
So bleibe ich bei der Erkenntnis, die ich diesem Artikel als Überschrift habe angedeihen lassen: Damit sich für die Menschen entlang der chronisch verstopften Ortsdurchfahrten in so vielen Kraichgau-Dörfern etwas ändert, muss zuerst ein handfestes Unglück geschehen. Erst wenn das Bild eines kleinen Körpers unter einem schweren LKW Reifen die Amtsstuben in Stuttgart oder Berlin erreicht, wird sich diese rostige Maschinerie in Bewegung setzen und das ist in jeder Hinsicht einfach nur unendlich traurig.