Fresst mehr Dreck!

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Warum der Kampf gegen Keime und unser Kontrollzwang falsch sind

Wir leben in einer Welt in der die Gelassenheit sich zunehmend auf dem Rückzug befindet. Kontrolle ist das Credo unserer Zeit. Das beginnt im Berufsleben, das ständige Erreichbarkeit von uns fordert und reicht bis weit hinein in unseren ehemals privaten Alltag. Per Email, Whatsapp, SMS, Anruf, Tweet oder Facebook-Chat sind wir jederzeit für diese verdammt große und wirre Welt greifbar. Das gute alte „Let it be“ der Beatles gilt schon lange nicht mehr.

Risiken minimieren, Sicherheit maximieren. Unser Kontrollzwang ist sogar bereits in den mikroskopischen Bereich vorgedrungen. Viren und Bazillen sind eine tödliche Bedrohung, die uns jederzeit kalt erwischen und meucheln könnten – so will man es uns glauben machen!  Neulich stand ich in einer Bäckerei in Kraichtal und beobachtete vor mir eine Kundin die mit Argusaugen die Verkäuferin beobachtete. Als die arme Frau es wagte ein Brot aus dem Regal zu holen ohne vorher ein paar Plastik-Handschuhe überzustreifen, tickte die Kundin aus. Sie würde dieses Brot nicht kaufen, es wäre ekelhaft und unhygienisch es einfach mit den blanken Fingern anzufassen und man möge den Filialleiter holen. Ich staunte nicht schlecht! Der ganze Aufstand wegen der Berührung eines Brotes mit unbehandschuhten Händen. Die Verkäuferin hatte keinen Lungenflügel zur Transplantation entnommen, sondern ein stinknormales Roggenbrot.

Da fragt man sich doch wie das früher wohl ohne Plastik-Handschuhe geklappt haben konnte – die Bäckereien müssen ja echte Brutstätten für Mumps, Ebola und Beulenpest gewesen sein. Ein hoch auf die Hygiene. Ich kann gar nicht mehr mitzählen wie viele Produkte mir in der Fernsehwerbung versprechen „99,9 Prozent aller Bakterien zu beseitigen“. Das Problem ist dabei das eine ganze Armee aus übervorsichtigen „Helikopter-Eltern“ diese Ängste und Kontrollzwänge an ihre Kinder weitergibt. Dreck jeder Art ist tunlichst zu meiden und bedeckt doch mal ein Stäubchen das kleine Patschehändchen, beseitigt das Hygientüchlein aus Mamis Tasche sofort 99,9 Prozent aller Bakterien. Das auf diese Weise Allergien auf dem Vormarsch sind, scheint niemanden wirklich zu erschrecken.  Selbst meine kleine Tochter kam neulich aus dem Kindergarten und erzählte uns, sie hätte Angst vor den „bösen Batärien“. Offenbar hatte eine andere verschreckte Fünfjährige alarmiert aufgeschrien, als unsere Kleine beherzt eine Nacktschnecke aus dem Matsch zog.

Doch welch sonderbare und paranoide Generation wächst auf diese Weise heran? Wenn ich Ihnen jetzt von einer typischen 70er / 80er – Jahre Kindheit vorschwärme, soll das nicht als „Früher war alles besser“ – Arie verstanden werden. An Gelassenheit hat es unseren Eltern damals dennoch nicht gemangelt. Wir Kinder sind nach den überschaubaren Hausaufgaben (den Pisa-Mist gab´s noch nicht) den Tag über durch die Gegend gestromert, haben im Dreck gespielt und mit den gleichen Fingern Schokolade in den Mund gestopft, die vorher noch einen verwanzten Streuner hinter den Ohren gekrault haben. Kinder brauchen diese Freiheiten! Stunden am Tag die nicht verplant sind für Geigen oder Französisch-Stunden – einfach nur leere, freie, eigene Zeit. Ohne Aufsicht, ohne Druck und Zwang. Ein lebendiger Geist braucht Freiraum um sich zu entfalten. Sie müssen die Welt erfahren mit all Ihren Bakterien, Gefahren und Widrigkeiten. Ich sage: Wider dem Hygienewahn – Fresst mehr Dreck! Und ganz wichtig: Gebt Euch nicht der Illusion hin alles kontrollieren zu können! Meine Kölner Oma Helma hat gerne gesagt: Ach Jong, wat kütt dat kütt! Die Welt lässt sich nicht kontrollieren, das Leben nicht bändigen. Jetzt aber genug von mir, sonst schreibe ich mich noch völlig in Rage… Außerdem ruft meine Frau gerade zum Abendessen – hoffentlich hat Sie das Brot mit Handschuhen angefasst…..!

Ein Meinung von Philipp Martin

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