Verlorene Kindheit

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Von früh bis spät im Hamsterrad – Viele Kinder in der Region haben kaum noch Zeit um einfach Kind zu sein

von Stephan Gilliar

Das Jugendzentrum Bounty an einem regnerischen Nachmittag im Frühjahr 2024. Der große historische Ballsaal in der Ortsmitte bietet alles, was man sich als Jugendlicher nur wünschen kann. Einen Billardtisch, einen Tischkicker, eine gemütliche Couchecke zum Fletzen, eine PlayStation direkt an den Beamer angeschlossen und einfach reichlich Raum für alle und jeden. Doch das Angebot von AWO und Gemeinde, dem andernorts der Aufenthalt in der örtlichen Bushaltestelle zur Alternative stünde, ist nur schwach besucht – Nur zwei Jugendliche sind an diesem Nachmittag hier, ansonsten gähnende und schwere Leere. 

Einer der beiden Jungs, die heute Nachmittag hier sind, ist Lukas. Lukas ist zwölf Jahre alt, besucht die örtliche Gemeinschaftsschule und verbringt seine Zeit gerne im Bounty… wenn er denn welche erübrigen kann. Das ist keineswegs leicht, Lukas muss die wenigen Zeitfenster sorgsam wählen, die er noch mit echter Freizeit füllen kann. Die Schule beginnt bei ihm am frühen Morgen, endet am späten Nachmittag. Danach muss oft noch gelernt werden, am Abend steht fast an jedem Tag irgendetwas in seinem Kalender. Da wäre das DLRG, das Handball-Training und die regelmäßigen Treffen der Jugendfeuerwehr. Im Grunde ist der Terminkalender des Jungen randvoll, durchgetaktet von Montag bis Sonntag. Kein Wunder also, dass sich der Zwölfjährige gut überlegen muss, was er mit den wenigen verbleibenden, wirklich ganz und gar freien Stunden in seinem jungen Leben anfangen möchte.

Die beiden Brüder Matthias und Michael Klebon, die für die AWO das Jugendzentrum Bounty betreuen, kennen das Problem nur zu gut. Der Faktor Zeit, der für Kinder und Jugendliche eigentlich nur ein abstrakter Begriff ohne Bedeutung sein sollte, ist für die heutigen jungen Generationen zu einer raren Ressource geworden. Ein Umstand, der schon bei Erwachsenen traurig stimmt, bei so jungen Menschen allerdings regelrecht niederschmetternd ist. “Wir bieten hier eine Anlaufstelle, ein sicherer Ort, wo jeder das tun kann, wonach ihm ist“, erzählen die beiden engagierten Betreuer, verzeichnen aber in den letzten Jahren einen steten Rückgang der Nachfrage. Gerade Corona, für niemanden eine derart schwere Belastung wie für unsere Kinder, hat hier noch einmal im schlechtesten Sinne nachgeholfen.

Diese Entwicklung ist real, ist kein Problem einzelner, sondern ein systemisches Phänomen, das unzählige Kinder und Jugendliche betrifft. Meine eigene Tochter beispielsweise ist vom Aufstehen um 6:30 Uhr nahezu den kompletten Tag mit Schule, Lernen, Leistung und nicht selten Druck völlig ausgelastet. Von der Schule kommt sie um 16:30 Uhr, dann müssen mindestens noch eineinhalb Stunden in Hausaufgaben und Klausurvorbereitungen investiert werden. Danach gibt es Abendessen und was anschließend noch bis zur Bettzeit übrig ist, steht meinem Kind zur freien Verfügung – meist gerade 60 bis 90 Minuten. 

Es beschämt mich zutiefst, welche Kindheit wir unseren Kindern aufbürden, eine Kindheit, die im Grunde überhaupt keine mehr ist. Kindheit ist Spielen, ist Erfahrung sammeln, ist die Freiheit verschwenderisch mit den eigenen Ressourcen und der Zeit umzugehen. Mitunter völlig sinnlos, ohne Sinn und Zweck und mit dem Privileg gesegnet, den Tag so zu leben, wie er sich vor einem entfaltet. Denn der ganze andere Wust, diese – Pardon – Scheißmischung aus Pflicht, Verantwortung, Leistung, Wirtschaften, Planen und Ordnen, beginnt schließlich immer noch früh genug. 

Als ich in Lukas Alter war, bin ich um 13:00 Uhr aus der Schule gekommen, die Familie hat gemeinsam zu Mittag gegessen, ich habe widerwillig am Schreibtisch meine Hausaufgaben hingerotzt, sie nicht selten noch am nächsten Morgen im Schulbus auf den Knien schludrig erledigt. Danach bin ich mit unserer Hündin Simba einfach losgezogen. Wir beide sind durch Eppingen getrottet, über die Felder, über die Wiesen, durch die Gassen der Altstadt. Ich habe mit Angelhaken im Altpapiercontainer nach Schmuddelheftchen gefischt, die paar Mark Taschengeld im Schreibwaren-Keppner in die neue Micky Maus, in Sammelkarten oder Kaugummi investiert und danach stundenlang mit Freunden die Füße in die Elsenz gehängt, über Raumschiff Enterprise oder Alf gesprochen, später über die Pros und Contras unserer Klassenkameradinnen. Unsere Nachmittage verfolgten viele Zwecke, keiner davon aber galt irgendeiner Pflicht, irgendeinem Sinn, irgendeinem Nutzen. 

Heute, ein paar Jahrzehnte später, sind Kinder Wirtschaftsfaktoren, die es schnell an die Tretmühle unserer so modernen gesellschaftlichen Ordnung zu verfüttern gilt. Das Gymnasium wurde um ein Jahr verkürzt, mit Pisa-Studien reichlich Druck aufgebaut, der Ersatzdienst gestrichen und mit den Ganztagsschulen dafür gesorgt, dass sowohl Eltern als auch Kinder möglichst gut in diesem leistungsorientierten System brennen und funktionieren können. Schon in der Kindertagesstätte, im Kindergarten und der Grundschule geht es nicht mehr um das Spielen, sondern um Förderung. Da werden den Kleinsten schon nutzbringende Attribute angediehen, Fremdsprachen vermittelt und freie Zeit als ein mit Sinn und Zweck zu füllendes Vakuum definiert. Jugendmediziner und Pädagogen schlagen schon seit Jahren vehement Alarm, sehen mit Besorgnis diesen fatalen Trend. Denn das kindliche Spielen, das vermeintliche Nichtstun, ist ein essenzieller und unabdingbarer Schritt in der menschlichen Entwicklung. Es kann nicht einfach übersprungen werden, nicht einfach optimiert und mit Nutzen beseelt werden. Wer es dennoch versucht, tut damit nichts Gutes, sondern stiehlt diesem jungen Menschen seine Kindheit, ein echtes Verbrechen, das nicht wieder gutgemacht werden kann – die Versündigung an ganzen Generationen. Spielen fördert die Entwicklung des kindlichen Gehirns, die Ausbildung von sozialen und emotionalen Fähigkeiten, die Selbstregulation sowie die Sprache. Doch kaum ein Kind findet noch die Zeit, um ausgiebig zu spielen. Wie der Verband amerikanischer Kinderärzte vor einigen Jahren errechnet hat, haben die Kinder im Vergleich zu meiner Kindheit in den Achtziger Jahren pro Woche gut 12 Stunden weniger Zeit um zu spielen – in Worten ZWÖLF STUNDEN. 

Es beschämt mich zutiefst in einer Gesellschaft, in einem Land zu leben, das seine eigenen Kinder so behandelt. Sozialleistungen kürzt, kein Geld in Bildung investiert, stattdessen den Alten dicke, fette Rentengeschenke gemacht, die unsere Kinder später mühsam finanzieren müssen, ganz zu Schweigen von den Hypotheken der halbherzigen Klimapolitik, die alles was aktuell geregelt werden müsste, einfach feige den Jungen aufbürdet.  Es drängt sich ein wenig das Bild der grauen Männer aus Michael Endes Roman “Momo” auf, die den Menschen die Zeit stehlen, sie verschlingen und nicht als Tristesse und Traurigkeit hinterlassen. Und falls Ihnen dieses Bild zur literarisch sein sollte, bemühen Sie doch einfach die Wissenschaft und ihren modernen Vater Albert Einstein: „Spielen ist die höchste Form der Forschung“ hat dieser schon vor bald 100 Jahren gesagt und auch “Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ PS: Eine der jüngsten Antworten darauf, kommt aktuell aus Bayern: Die Streichung von Musik und Kunstunterricht – man könnte hysterisch lachen, wenn es nicht so unendlich traurig wäre.

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18 Gedanken zu „Verlorene Kindheit“

  1. das ist leider wahr. Ich sehe es immer bei meiner 15 jährigen Tochter und dann denke ich nach wie es bei mir war. Ich hatte eine glückliche Jugend mit viel Freizeit mit Freunden (wir hingen zum Glück aber auch nicht am Handy und es gab noch kein Internet mit dieser Menge von Informationsflut)
    Danke für diesen Bericht

    • Als ich Alter von Lukas gewesen bin, hätte ich 2 Stunden zusätzlich Musik- und Kunstunterricht als Plage empfunden.
      Auch stärkt das noch nichtmal annähernd die Phantasie so gut wie, auf hohe Bäume klettern, über Bäche springen.

  2. Amen!
    Es gibt Studien (aus den USA) die untersuchen und vergleichen, welchen Radius Kinder früher und heute frei und selbstständig erkunden können. Früher ca. 6 Kilometer, heute oft kaum mehr als 600 Meter. Meine Theorie: Angst der Eltern spielt oft eine entscheidende Rolle. Kindheit darf eben nur noch unter Aufsicht stattfinden.

  3. Ich finde es erschreckend, was den Kindern heutzutage aufgebürdet wird und frage mich auch, in wie weit die Kreativität und die Entwicklung motorischer Fähigkeiten zu kurz kommen. Die Kinder von heute haben gute Aussichten 80 oder 90 Jahre alt zu werden. Da kommt es meiner Meinung nach auf ein paar Schuljahre mehr gar nicht an. Wir brauchen doch keine jetzt schon gestressten junge Menschen. Für mich ist es ein Sakrileg ihnen diese Herausforderungen zuzumuten und auch so wenig Rücksicht darauf zu nehmen, wie schnell oder langsam jeder in seiner individuellen Entwicklung ist. Man weiß heute so viel mehr darüber, wie unterschiedlich das Lernen von Mädchen und Jungen ist und auch welche Umbauprozesse in dieser Lebensphase im Gehirn stattfinden, als vor 30 Jahren, aber diese Erkenntnisse werden im Schulsystem nicht berücksichtigt.

  4. Willkommen in der Wirklichkeit. Ich bin selbst Vater zweier Töchter (7+8 Jahre, 1+2 Klasse) und was in der Schule ab geht, geht auf keine Kuhhaut. Beispiel 2 Klasse:
    Deutsch: Verben, Nomen und Adjektive lernen und unterschieden, diverse Diktate (Lauf oder Dosen), Lesen und Text Verständnis, Gesichten zu Bilder ausdenken, Einzahl und Mehrzahl etc.
    Mathe: Plus und Minus rechnen im Zahlenraum bis 100, kleines 1×1, Uhrzeit (viertel, halbe und dreiviertel, Morgen und Abends Uhrzeit), Kalender, Textaufgaben, Rechenmauer, Rechenkreise, Dividieren lernen.
    Häufig sitzen die Kids an den Hausaufgaben 30 Minuten bis 60 Minuten, plus dann noch etwas lernen. Und ja, ich als Vater bekomme dies durch Homeoffice auch live mit.
    Bei der großen Tochter, wurde der Druck jetzt ja dadurch erhöht, da es nun Noten gibt. Was nicht zu einer „sorgenfreier Kindheit“ beiträgt. Wir als Eltern sind hier auch sehr tolerant, alles zwischen 1 und 4 ist in Ordnung! Nach dem Motto: Vier Gewinnt :)

    Was die kleinen heute leisten müssen, wollte ich nicht machen.

    Aufgrund schon dieser reinen Masse des Schulestoffes, haben wir als Eltern uns entschieden, unsere Töchter nur in einem Verein anzumelden. Somit kann noch genügend Zeit für eigene Aktivitäten bleibt. Leider, eine Seltenheit, wie man in dem Freundeskreis der Kinder mitbekommt….

    • Ich bin Lehrer am Gymnasium – Sie glauben nicht, wie oft ich höre, dass es bitte mehr Hausaufgaben geben soll, weil „es doch nicht sein kann, dass die Kinder so wenig aufhaben“…

      Ich denke nicht, dass es so viel mehr geworden ist, als in meiner Zeit als Schüler, aber je mehr die Eltern empathisch, entspannt und unterstützend sind, desto besser gelingt das Ganze, meiner Erfahrung nach.

  5. Oftmals beginnt das Problem schon bei den Eltern…. Höher, schneller, weiter. Nur das Abi ist noch was wert. Unsere Tochter geht „nur“ auf eine Gemeinschaftsschule, dies aber mit Leichtigkeit und Spaß. Wenn sie zuhause ist, hat sie Zeit für sich und ist nicht nur mit Lernen beschäftigt. Unser Sohn besucht die Grundschule und der Lehrplan ist absolut in Ordnung! Uns als Eltern genügt das, wir müssen niemandem was beweisen. Und unsere Kinder „dürfen“ einen Beruf erlernen, auch ohne Abitur gemacht zu haben. Denn gerade diese Menschen sind in ein paar Jahren Gold wert, wenn all die anderen, von ihren Eltern geplagten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen mit 25 ihrem Burnout erliegen. Bravo, ist doch alles gut und vor allem von Haus aus schon gefördert worden. Das Problem kommt meiner Meinung nach nicht von der Schule.

  6. Arbeiten um die Kita zu bezahlen, wo kaum ein pädagogischer Auftrag mehr möglich ist ! Wir verlieren den Bezug was Mensch sein ausmacht , stattdessen ist Funktionieren und perfekt Orga das wichtigste ! Traurig

  7. Ich kann Ihren Kommentaren nur zustimmen. Bis auf die fetten „Rentengeschenken“.Ich habe selbst 45 Arbeitsjahre in meine Rente eingezahlt, also sind das keine Geschenke und so üppig sind die Renten nicht ,daß man gut davon leben kann…Ansonsten guter Bericht, kann ihnen als Oma von 3 Enkeln nur zustimmen.

  8. Die Dummheit der Menschen ist grenzenlos , sagte der gute A. Einstein … unser System versteht nur Zahlen , aber nicht den Menschen ;)

  9. „Nichtstun“ wird für Kinder leider unterbewertet. Wer selbst Musik macht, versteht noch weniger, warum dieses Schulfach gestrichen werden soll…

  10. Der Bericht und die (meisten) Kommentare machen Mut: NOCH ist das Bewusstsein nicht verloren, dass es Wichtigeres gibt als Leistung++ – erst recht in jungen Jahren – später kann und muss das jede/r für sich selbst entscheiden. Lasst uns also weiter unsere Beiträge leisten für eine lebenswerte Kindheit unserer Kinder – jeder an seiner Stelle – DANKE wieder mal für den genialen Beitrag!!

  11. Ich bin froh so alt zu sein und keine Kinder zu haben. Was in diesem Artikel und auch von den entsprechenden kommentaren außen vor gelassen wurde – die Carola Zeit. Da wurde den Kindern viel von ihrer Kindheit genommen. Schwamm drüber ! Längst vergessen.
    Wie lautet ein gängiger Spruch vieler Eltern unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir.

  12. Jetzt bin ich doch froh, dass ich (Jahrgang 1944) nach der Schule nur zur Feldarbeit musste, danach im Stall mithelfen, danach Milch wegbringen ins „Milchhäusle“ und danach Hausaufgaben erledigen konnte. Geigen- oder Ballettunterricht waren absolute Ausnahmen. Da zu dieser Zeit nicht alle Kinder hochbegabt waren, erlernten die meisten einen Handwerksberuf. Dafür erhalten viele meiner Altersgenossen dank „fetter Rentengeschenke“ heute durschnittlich ca. 1200 € Alltersbezüge im Monat. Einige davon sammeln aus lauter Langeweile inzwischen sogar Pfandflaschen.
    Dieser Gilliar-Artikel läßt noch viel Luft nach oben…

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