Hoffnung, Wut und Wundertüten

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Wie Modehändler Oliver Spiess aus Eppingen seine Läden durch die Untiefen des Lockdown steuert

Donnerstag, Eppingen, Brettener Straße. Ich sitze in einem Holzsessel in einem der beiden Eppinger Modegeschäfte von Oliver Spiess. Es ist gemütlich hier, fast wie in einem Wohnzimmer. Der Laden wurde in den letzten Wochen komplett neu gestaltet, es gibt viel warmes Licht, Sessel, Sofas, eine Kaffeebar – alles in hölzernen und erdigen Tönen gehalten. Vor mir, in der Ecke eines samtblauen Sofas, sitzt Ladeninhaber und Gründer der beiden Modehäuser, Oliver Spiess. Seine entspannte Pose mit offenen Armen soll zwar Gelassenheit ausdrücken, doch auf den ersten Blick fällt auf – das Visier ist nach unten geklappt. Auf meine Frage hin wie es ihm geht, kommt ein rasiermesserscharfes “Mir persönlich geht’s gut, warum soll es mir auch nicht gut gehen? Alle sind gesund, das Wetter ist schön”.

Dass meine Frage darauf nicht abzielte weiß ich und Oliver Spiess weiß es auch, daher präzisiere ich: “Wie geht es Ihnen beruflich?” Jetzt blitzen die Augen des erfahrenen Geschäftsmannes sichtlich und offenbaren, wie sehr ihn die derzeitige Situation frustet und nicht zuletzt wütend macht. “Geschäftlich kommen einem die Tränen” sagt er und fasst jene Ungerechtigkeiten in knappen Sätzen zusammen, die so viele Ladeninhaber überall im Land derzeit umtreiben. Während nämlich Fachgeschäfte wie die von Oliver Spiess, dem Schreibwarenhändler oder dem Spielwarenhändler auf der anderen Straßenseite derzeit von Gesetz wegen schließen müssen, dürfen nur wenige Kilometer weiter große Filialisten und Verbrauchermärkte munter weitermachen und genau jenes Sortiment anbieten, das nun den Kleinen unter den Händen verfällt. Während es die Blumenhändler zurecht geschafft haben die Verderblichkeit und die Kurzlebigkeit ihrer Ware allgemeinverständlich zu demonstrieren und so aus dem Schatten des Lockdown herauszutreten, hat es ein Modehändler wie Oliver Spiess hier ungemein schwerer. Seine Ware verdirbt zwar nicht im eigentlichen Sinne, weil Mode aber ein extrem kurzlebiges und saisonales Geschäft ist, wird eine Kollektion nach Ablauf einer solchen Saison faktisch wertlos. “Es muss mir mal ein Mensch erklären, wo da Gerechtigkeit ist” fragt mich Oliver Spiess – eine Frage, auf die ich keine Antwort habe-

So türmten sich in seinen Lagern bis zuletzt unzählige Kleidungsstücke der scheidenden Wintersaison 2020/2021, die er nun zu einem deprimierend kleinen Bruchteil des Einkaufspreises an Aufkäufer aus dem Osten abtreten muss. Als ob die Verluste aus diesem Geschäft nicht schon groß genug wären, ist Oliver Spiess zudem verpflichtet jedes einzelne Kleidungsstück zu registrieren und für den Gesetzgeber Verkauf und Transport zu dokumentieren. Tatsächlich schuldet er den Behörden eine Nachweis über das sprichwörtlich letzte Hemd, jedes Paar Socken und jede Unterhose die sein Lager verlassen. Der staatlichen Unterstützung der Unternehmer in der Corona-Krise stellt Oliver Spiess ohnehin kein allzu gutes Zeugnis aus. “Das ist komplett theoretisch, da sind keine Praktiker am Werk” fasst er grimmig zusammen und führt aus: “Mit den Hilfsgeldern kann man vielleicht einen Teil der Miete bezahlen, aber was bleibt denn zum Leben übrig? Dahinter stehen doch Menschen die leben müssen, ihre Angestellten, ihre Familien..? Darüber spricht und berichtet kein Mensch!”

Auch wenn der derzeitige Lockdown und die Schließungen im vergangenen Jahr den Modehäusern von Oliver Spiess zugesetzt haben, gibt sich der Geschäftsmann zuversichtlich. “Im April werden wir wieder öffnen” prognostiziert er und investiert weiter in das, was da auch immer kommen wird. In den letzten Wochen hat er seinen Laden in der Brettener Straße ganz neu gestaltet und für ein gemütliches und stressloses Einkaufserlebnis neu aufgestellt. Seine Kunden sollen sich hier ganz ohne Druck auch einmal auf dem Sofa ausruhen, einen Kaffee trinken, ein bisschen ins Gespräch kommen können, so umreißt er sein Ladenkonzept für die Zeit nach der Wiedereröffnung. Um bei seinen Kunden nicht in Vergessenheit zu geraten, hat Oliver Spiess in den vergangenen Wochen zudem eine Verkaufsaktion gestartet, die einzig und allein beworben über die sozialen Medien, eine riesengroße Resonanz ausgelöst hat.

Wiedergeburt der Wundertüte – 600 Überraschungsboxen voller Kleider

Um nicht seiner gesamten Winterware beim Verwelken zusehen zu müssen, hat er unzählige Überraschungskisten gepackt – eine jede mit Markenartikel aus seinem Sortiment bestückt. Online hat er diese Kisten zu einem deutlich reduzierten Preis angeboten, meist mit einer Ersparnis von rund 70 % gegenüber dem UVP. Der Clou: Der Kunde kaufte quasi die Katze, oder vielmehr z.B. die Jacke im Sack. So wusste er im Vorfeld zwar, dass er eine Jacke oder einen Pulli einkauft, er wusste auch von welchen Labels die Teile stammen, konnte selbstverständlich seine Größe angeben – doch welches Modell, welche Farbe, blieb ein Geheimnis. Über 600 dieser Boxen habe er verkauft, 99 Prozent der Kunden seien zufrieden gewesen, fasst Oliver Spiess Erfolg und Resonanz der Aktion zusammen.

Viele Kunden berichteten ihm demnach auch, dass sie Kleidungsstücke erhalten haben, die sie sich vermutlich niemals im Laden ausgesucht hätten, mit denen sie überraschenderweise aber hoch zufrieden waren und die Ihnen ganz neue Rückschlüsse über die eigenen Vorlieben erlaubten. In die Boxen packten Oliver Spiess und sein Team übrigens auch kleine Give-Aways und einen persönlichen Brief, in dem sie sich für die Unterstützung der Kunden in diesen schwierigen Zeiten bedankten. “Das ist für mich echte Solidarität” fasst Oliver Spiess zufrieden zusammen. Weil die Aktion so erfolgreich war, denkt er sogar darüber nach, diese immer wieder neu zu beleben. Nicht nur bei besonderen Anlässen wie dem Muttertag oder dem Valentinstag, sondern auch einfach mal so z.b. mit einer Frühstücks-Überraschungsbox.

Wirklich Geld verdienen lässt sich mit den Boxen aber selbstredend nicht, diese sind eben mehr ein Marketinginstrument, als finanzielle Schubraketen. Um wieder in sicheres Fahrwasser zu kommen, müssen die Geschäfte baldmöglichst wieder öffnen. Wenn es dann soweit ist, werden seine Kunden auch alle wieder kommen, ist sich Oliver Spiess sicher. “Kleider muss man anfassen, anprobieren und erspüren” weiß er nach seinen langen Jahren als Modehändler genau “Die 70-Prozent Retourenquote im Online-Kleiderhandel sprächen hier schließlich für sich.

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1 Gedanke zu „Hoffnung, Wut und Wundertüten“

  1. Genauso ist es Herr Spies,anfassen, erleben,
    Das sind, alles Theorie Menschen in den Politischen Ebenen..

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