Ein halbes Jahr auf Rettung warten

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Wer im Kraichgau akute, psychologische Hilfe sucht, verzweifelt oft an dieser Odyssee

Marcel geht es nicht gut. Nein, es geht ihm vielmehr schlecht. Er schläft kaum noch, kann sich nicht mehr an seinen letzten glücklichen Gedanken, an seinen letzten unbeschwerten Tag erinnern. Panikattacken, Kurzatmigkeit und Herzrasen schütteln ihn mehrfach pro Woche, gelegentlich schon direkt nach dem Erwachen. Manchmal bricht er einfach so in Tränen aus, meistens aber spürt er bis auf eine schwere, bleierne Leere fast überhaupt nichts mehr.

Marcel, der in Wirklichkeit gar nicht so heißt, ist einer meiner ältesten Freunde. Er war schon immer etwas schwermütiger als wir anderen, für ihn war das Glas im Zweifelsfall eher leerer, als voller. Dennoch war Marcel immer ein ausgesprochen angenehmer Weggefährte – offen, ehrlich und ausgestattet mit einem bärbeißigem, schwarzen Humor, der seinesgleichen sucht. Man konnte mit ihm quatschen, diskutieren und philosophieren – oft bis in die späte Nacht hinein.

In den letzten Monaten hat sich Marcel aber vor meinen Augen verändert, ist von Tag zu Tag etwas blasser, ruhiger und zurückgezogener geworden. Die Treffen wurden seltener und Marcel immer einsilbiger. Durch die Beschränkungen und den Lockdown konnten wir uns immer weniger sehen, wenn dann überhaupt nur zu zweit und während der Ausgangssperre sogar noch begrenzt bis 21 Uhr. So sind wir oft spazieren gegangen, meistens schweigend unter den tief hängenden Wolken dieses verregneten Frühjahres 2021. Die Schwere die meinen Freund umgab war fast schon physisch, lag greifbar in der Luft. All das Unbefangene, das Fröhliche war wie fortgeblasen.

Was Marcel fehlte, blieb zwar lange Zeit unausgesprochen, war aber offensichtlich. Er wusste es, ich wusste es und sie wissen es nach der Lektüre dieser ersten Absätze auch: Marcel litt unter einer Depression. Es waren nicht nur ein paar schlechte Tage oder nur eine schlechte Stimmung die mit einem “Das wird schon wieder” aus der Welt zu schaffen ist – nein, mein Freund war krank und brauchte dringend Hilfe. Fast die ganze Definitionspalette der Weltgesundheitsorganisation WHO hinsichtlich einer Depression traf auf Marcel zu: “Traurigkeit, Interesselosigkeit und Verlust an Genussfähigkeit,…., Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen”.

Marcel ist damit nicht allein. Rund 5 Millionen Menschen in Deutschland leiden laut diverser, offizieller Quellen unter einer Depression – die Tendenz ist seit Jahren steigend. Die Corona-Krise hat diese Situation deutlich verschärft, besonders bei den Kindern und Jugendlichen. Die Anzahl derer, die unter Depressionen und Burnout leiden, hat sich innerhalb kürzester Zeit um niederschmetternde 30 Prozent erhöht.

Eine Depression ist eine Krankheit, dies steht unumstößlich fest und es ist keine Frage der Interpretation. Normalerweise ist es so: Wer krank ist, geht zum Arzt und lässt sich behandeln bis er wieder gesund ist. Wer sich beispielsweise das Bein bricht, geht direkt ins Krankenhaus oder zum Doktor, erhält einen Gips und ein paar Schmerztabletten und gilt etwa 6 Wochen später als genesen. Wenn es doch nur bei einer psychischen Erkrankung genau so einfach wäre…

Marcel hat alles versucht um sich Hilfe zu suchen, scheiterte trotz all seiner Bemühungen in den letzten Wochen aber immer und immer wieder. Zwar ist eine Depression in professioneller Betreuung gut behandelbar, doch die Suche nach einem Therapieplatz gestaltet sich manchmal schwer – für Menschen mit Depressionen oft viel zu schwer. Marcel lässt sich lange Listen mit zugelassenen Therapeuten von seiner Krankenkasse schicken, telefoniert und schreibt jeden einzelnen Eintrag darauf an. In seltenen Fällen schafft er es bei einem Therapeuten auf die Warteliste, an deren Ende er sich bestenfalls in vier bis sechs Monaten hochgearbeitet hat… zumindest aller Voraussicht nach. In den meisten Fällen, klappt aber noch nicht einmal dies: “Ich bin völlig ausgelastet, kann keine weiteren Patienten aufnehmen und habe meine Warteliste geschlossen” ist die häufigste Antwort, die Marcel erhält. Manche rechnen überdies nur mit ausgewählten Krankenkassen ab, wiederum andere nehmen nur Privatpatienten auf oder eben Selbstzahler. Letzteres kommt bei Marcels kleinem Einkommen aber nicht infrage, eine solche Einzelsitzungen kann gut und gerne 80 bis 100 Euro oder auch mehr kosten.

So bleibt Marcel nur das Warten und das Hoffen, beides eigentlich untragbare Zustände während einer sich immer weiter ausbreitenden Depression. Doch die unflexible Bedarfsplanung und die Zulassungspraxis der Krankenkassen, sowie in allererster Linie das stetige Anschwellen der Zahl psychisch erkrankter Menschen, haben längst eine gigantisch, klaffende Lücke zwischen Angebot und Nachfrage erzeugt. Durchschnittlich 24 Wochen warten hilfesuchende Kassenpatienten mittlerweile auf einen Therapieplatz, teilte erst kürzlich der Verband für psychologische Psychotherapeuten mit. Alle die schon einmal an einer Depression gelitten haben oder noch leiden, wissen sofort: Eine Wahnsinnszahl und eine viel zu lange Zeit, in der sich das eigene Leid stetig summiert. Im Kraichgau verschärft sich dieses Problem zusätzlich, weil sich auf dem Land tendenziell deutlich weniger zugelassene Therapeuten finden als in den Ballungsräumen der Städte wie z.b. Heidelberg oder Karlsruhe.

Was viele aber nicht wissen, die Krankenkassen sind verpflichtet ihren Mitgliedern notwendige Behandlungen zu ermöglichen. Über die zentrale Anlaufstelle der Kassenärztlichen Vereinigungen können Erst-Termine vereinbart werden, die aber in allererster Linie klären sollen, ob überhaupt eine “krankheitswertige Störung” vorliegt. Auf der entsprechenden Webseite heißt es aber überdies: “Es besteht kein Anspruch, im Falle einer ggf. erforderlichen Richtlinien-Psychotherapie diese bei demselben Arzt/Therapeuten antreten zu können.” – Anders ausgedrückt: Ein Termin zur Erstberatung wäre auf diesem Wege denkbar, die Vermittlung eines dauerhaften Therapieplatzes dagegen eher nicht.

Für Marcel bedeutet dies daher: Konkrete, schnelle und unbürokratische Hilfe ist für ihn erst einmal nicht in Aussicht. Ein ernüchterndes Fazit und ein trauriges Zeugnis für eine Gesellschaft die sich fragen muss, warum die Menschen in ihrer Mitte zunehmend therapeutische Hilfe benötigen, diese ihnen aber nur unzulänglich zur Verfügung gestellt werden kann.

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2 Gedanken zu „Ein halbes Jahr auf Rettung warten“

  1. Ist bei mir nicht anders. Ich leide seit mehr als 12 Jahren unter Depressionen, bin gerade in stationärer Therapie und am Anschluss habe ich nichts…

  2. Vielen Dank für diesen einfühlsamen und doch so ehrlichen Artikel. Er beschreibt das Dilemma, in dem man sich befindet, wenn man die Krankheit eigentlich überwinden will und mangels Hilfe noch tiefer hinein getrieben wird. Als Mutter einer Betroffenen bin ich froh, dass dieses Thema nun endlich einmal an die Öffentlichkeit getragen wird.

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