Die Letzte macht das Licht aus

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Als junges Mädchen betrat Renate Schweigert das erste Mal die alte Näherei in Neuthard – nun verlässt sie endgültig die längst stillgelegte Fabrik – nach über 60 Jahren.

Es ist schlecht bestellt um die alte Näherei in Neuthard. Die meisten Fenster sind zerbrochen, der Putz bröckelt, wilde Pflanzen haben die marode Fassade längst überwuchert. In ihrem Inneren sieht es nicht viel besser aus. Stockflecken und fahler Wasserschimmel blühen überall auf den vergilbten Tapeten, der spröde gewordene Stragula-Boden wölbt sich, die einst weißen Deckepaneele schälen sich aus ihren Fugen.

Inmitten all dieses Verfalls gibt es noch einen kleinen, warmen Rest glänzender Vergangenheit, der sich beharrlich weigert, im Strudel der Zeit hinfort gerissen zu werden. In einem einzigen Raum im Erdgeschoss brennt noch Licht, macht sich noch behagliche Wärme breit. Ein altes Röhrenradio spielt Musik und eine letzte schwere Pfaff-Nähmaschine klappert einsam in der früher vor Emsigkeit überlaufenden Fabrik.

Hinter der Nähmaschine sitzt Renate Schweigert und macht das, was sie ihr ganzes Leben lang getan hat: Sie näht. Surrend webt die Maschine Naht für Naht in das weiße Stück Tuch. Stramm halten die durch Jahrzehnte harter Arbeit zerfurchten Hände den Stoff. Am Ende soll es ein kleines Stoffherz werden, ein Geschenk für Renates alte Chefin, zu der Sie – trotz der vielen Jahre, die seit der Schließung der Fabrik vergangen sind, immer noch ein gutes und herzliches Verhältnis pflegt.

Ich möchte von ihr wissen, wie es ihr damit geht, diesen Ort nun endgültig zu verlassen, den sie das erste Mal als junges Mädchen betreten und seither fast jeden Tag ihres Lebens aufgesucht hat. Die heute 75-Jährige hält inne, ihr Blick verschwimmt in Tränen – fast so, als ob sie gerade das erste Mal darüber nachdenkt.

Um zu verstehen, was sie in diesem Moment durchmacht, muss man ein Stück in die Vergangenheit reisen. Zurück in das ländliche Wiesental der Nachkriegsjahre. Hier kommt Renate Schweigert 1947 auf die Welt. Ihre Eltern betreiben eine Gaststätte, in der sie von Kindesbeinen an aushilft. Mit 14 Jahren schließt Renate die Volksschule ab und sucht sich bei einem Modegeschäft im Ort eine Ausbildungsstelle als Näherin. Das Nähen ist von jeher ihre Leidenschaft, schon mit 12 Jahren wusste sie mit Garn, Nadel und Faden umzugehen. Alles hat sie damals selbst genäht, für die Familie, Bekannte und auch sich selbst… Kleider, Röcke.. ihre ganze Garderobe.

Als ihre Eltern schließlich das Haus und die Gaststätte verkaufen, um nach Neuthard umzuziehen, bewirbt sich Renate bei der damals florierenden Bekleidungsfabrik der Familie Häusler. Sie wird auf Anhieb genommen und so betritt Renate Schweigert als damals 16-jähriges Mädchen das erste Mal den massiven Backsteinbau am Rande des Dorfes.

Von morgens bis abends näht sie, was das Zeug und die fleißigen Finger hergeben. Sportbekleidung aus massivem Leder, gemacht für die Ewigkeit, doch nicht leicht zu verarbeiten. Mit zeitweilig mehreren Dutzend Kolleginnen ist die Fabrik als Außenstelle des Bruchsaler Hauptsitzes der Häuslers gut ausgelastet. Jeden Tag bringen die Lieferwägen aus der Stadt neues Material, das Renate und die anderen Näherinnen in fertige Kleidungsstücke verwandeln. Ihr Fleiß bleibt nicht unbemerkt und so steigt Renate schon nach wenigen Jahren zur Betriebsleiterin auf. In den 60ern und 70ern floriert das Geschäft, das Angebot schaffte es kaum mit der Nachfrage Schritt zu halten, doch mit Beginn der 80er Jahre wendet sich das Blatt. Immer weniger Aufträge lassen das Geschäft Stück für Stück einbrechen, so dass kurz vor der Jahrtausendwende in der Neutharder Dependance der Häuslers die Lichter erlöschen.

Nun möchte man meinen, dass genau hier auch Renates Geschichte als Näherin endet, doch das ist nicht der Fall. Weil sie mit dem alten Herrn Häusler ein gutes Verhältnis pflegt, gestattet er ihr auch weiterhin in den stillgelegten Räumlichkeiten zu nähen. Nicht mehr gegen Geld, das natürlich nicht, dafür aber für Freunde, Bekannte und Verwandte. Damit sie dabei nicht allzu einsam ist, spendiert die Firma ihr ein altes Radio – jenes das bis zum letzten Tag Musik gespielt hat – einen vollen Öltank für die improvisierte Heizung und das bisschen Strom und Wasser, das sie für ihr bescheidenes Tagwerk noch braucht.

So blieb Renate an ihrem einstigen Arbeitsplatz, noch lange nachdem die letzte Kollegin gegangen war… Dass es von da an noch einmal über 22 Jahre werden sollten, hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Fast jeden Tag schließt sie immer noch das alte Fabriktor auf, nimmt an ihrer treuen Maschine Platz und näht. Darüber hinaus engagiert sie sich für den Sozialverband, organisiert in der alten Näherei Flohmärkte für den guten Zweck. Auch das mit dem ausdrücklichen Segen des schon lange verstorbenen Herrn Häusler Senior und von da an dessen Sohnes.

Doch wie es im Leben in letzter Konsequenz aber immer ist: Jedes Ding hat seine Zeit. In wenigen Wochen werden die Abrissbagger anrollen, um die hoffnungslos verfallene Fabrik dem Erdboden gleichzumachen. Moderner Wohnraum soll hier entstehen, das Alte weicht dem Neuen. Der unausweichliche Lauf der Welt.

So wird auch diese außergewöhnliche Zeitblase, in der Renate all die Jahrzehnte überdauert hat, demnächst platzen. Schließlich antwortet sie auch auf meine Frage, wie es ihr nun damit geht? Sie wird klar kommen, sagt sie und hebt stolz das Haupt. “Daheim isch a schee” und nähen kann man schließlich überall. Gemeinsam stehen wir auf und verlassen die Stille und die darin verhafteten Geister der Vergangenheit. Ihre Sachen hat Renate schon gepackt, nur ein einziger Karton ist über all die Jahrzehnte zusammengekommen.

Bald dreht sie den Schlüssel ein letztes Mal im rostigen Schloss, geht nach Hause. Denn irgendjemand muss es tun, das war schon immer so: Die letzte macht das Licht aus.

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2 Gedanken zu „Die Letzte macht das Licht aus“

  1. Das sind die Storys – die das Leben schreibt. Dafür schätze ich euch sehr. Und NEIN, es ist KEIN Gesülze oder etwas Honig ums Maul schmieren, das liegt mir fern. Ich meine das ehrlich !!!

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