Der große Mann und das kleine Mädchen

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Ein paar Worte mit einem fremden Kind auf der Straße wechseln? Schwierig! Misstrauen und Angst scheinen eine tiefen Graben zwischen den Generationen gezogen zu haben

von Philipp Martin

Der kleine Drahtesel kommt ins Schlingern, erschrocken reißt das Mädchen am Lenker mit den bunten Troddeln an den Griffen, doch es ist zu spät. Die Kleine verliert die Kontrolle über ihr Fahrrad und stürzt gegen den kleinen Gartenzaun, der den Spielplatz von der Straße daneben trennt. Das Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, sitzt auf dem Hosenboden und dicke Tränen kullern ihr die Pausbacken herunter. Ich bin selbst Vater einer Tochter, mein erster Impuls ist also einfach nur zu helfen. Ich laufe zu dem Mädchen herüber, helfe ihr auf die Beine, richte ihr kleines Fahrrad auf und frage sie vor ihr kniend, ob sie in Ordnung ist und ob ich helfen kann. Die Kleine schnieft, nickt schüchtern mit dem Kopf und reibt sich das aufgeschürfte Schienbein.

Schon in diesem Moment beginnt sich diese Szene jedoch in beunruhigender Art und Weise zu verändern. Zwei Mütter, die auf dem benachbarten Spielplatz auf der Bank saßen, eilen herüber, werfen mir dabei Blicke zu, die Argwohn und Misstrauen ausstrahlen. Während die eine sich nach dem Kind bückt, schirmt die andere mich quasi mit ihrem Körper von den beiden ab, dreht den Kopf knapp zu mir, wirft mir einen abweisenden Blick zu und sagt: Danke, wir kommen klar. Auch das Mädchen scheint die Körpersprache der beiden Frauen aufzugreifen und schaut mir von diesem Zeitpunkt nicht mehr direkt ins Gesicht, wendet den Blick zu Boden.

Ich stehe einen Moment einfach nur verdutzt und sprachlos da, bis allmählich die Erkenntnis in mir aufsteigt, dass die beiden Frauen mich offenbar als eine Art von Bedrohung eingestuft haben. Sofort beginne ich mich schuldig zu fühlen, fehl am Platze, ja regelrecht ertappt… aber bei was denn? Ich bin zufällig vorbeigekommen als ein kleines Mädchen vom Fahrrad gestürzt ist und wollte ihr einfach nur helfen und sie in diesem Moment der Not unterstützen. So wie ich es unzählige Male bei meiner eigenen Tochter gemacht habe, wenn sie sich irgendwo beim Spielen weh getan hat oder eben auch vom Fahrrad gefallen ist.

Doch die Reaktion der beiden Frauen zeigt mir, dass diese Hilfe offenbar unangebracht war. Aber warum? Weil ich ein Mann bin und ein großer noch dazu? Vielleicht reichen schon diese beiden Attribute aus, um mich potentiell zu einer Bedrohung zu erheben, zu einem potentiellen Täter? Mir könnten schon jetzt wieder die Tränen in die Augenwinkel schießen, nur ob der gedanklichen Möglichkeit in den Köpfen dieser Frauen. Ihre vermutlich instinktive Annahme, könnte weiter von der Wahrheit nicht entfernt sein. Sorge und Mitgefühl hatten mich in diesem Moment zum Handeln veranlasst, nicht mehr.

Natürlich ist diese Reaktion nicht völlig aus der Luft gegriffen, speist sich aus den vielen üblen Geschichten, die man schon gehört hat, die teilweise über die Nachrichten, über Social Media, WhatsApp-Gruppen und über Hörensagen Einzug in die eigenen Köpfe gehalten und dort Nester geschlagen haben. Nichts ist mächtiger als der Mutterinstinkt, auf Bedrohungen wird intuitiv reagiert, das liegt in der Natur des Menschen.

Dennoch bin ich mir sicher, dass die Ängste, getriggert durch Horrormeldungen in den sozialen Netzwerken und den dort immer lauter dröhnenden Alarmglocken, schon längst nicht mehr die ganze Realität abbilden. Unsere Gesellschaft mag sich in vielerlei Hinsicht gewandelt haben, in mancher Hinsicht auch zum Schlechteren, aber deswegen ist doch nicht jeder Mann, der über die Straße läuft, ein potentieller Kindsmörder. Ist es nicht rein statistisch sehr viel wahrscheinlicher, dass die meisten Männer da draußen liebende Familienväter sind, oder zumindest nichts Böses im Schilde führen?

Ich kann die Ängste vieler Mütter absolut nachvollziehen, Vorsicht ist eben besser als Nachsicht, doch müssen wir uns nicht auch die Frage stellen, was diese Ängste mit unseren Kindern machen? Wenn wir Ihnen bewusst oder unterbewusst vermitteln, dass alle Fremden potentiell gefährlich sind und man sich besser konsequent von Ihnen fernhält? Welches Menschenbild wächst denn mit einer solchen Prägung in diesen jungen Köpfen heran? Erzeugt diese Art des Misstrauens nicht mehr Distanz zwischen uns, lässt uns Menschen in unserer Schicksalsgemeinschaft unweigerlich mehr auseinanderdriften? Bleibt dann nicht nur noch die Interaktion über irgendwelche sozialen Netzwerke, wo genau diese Ängste weitergeführt und bedient werden, so dass am Ende eine Teufelsspirale entsteht, die uns spaltet und voneinander entfremdet?

Ich für meinen Teil werde das nächste Mal wenn ein Kind in Not ist, wieder herbeieilen, werde wieder versuchen zu helfen, fortan aber mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube, mit hochgezogenen Schultern und einem Schuldgefühl verbunden das mir auf die Schultern gelegt wurde aber sicher nicht von innen kommt. Himmel, wie traurig das ist, diese riesige Schlucht zwischen uns aufklaffen zu sehen, eine Schlucht, die dort überhaupt nicht sein dürfte, nicht sein sollte. Vertrauen zu schenken mag vielleicht der gefährlichere Weg sein, doch ist er auch der lohnendere. Ich glaube fest daran, dass die meisten Menschen um uns herum gut sind, welch schreckliches Leben würden wir unseren Kindern zumuten, brächten wir Ihnen das Gegenteil bei.

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7 Gedanken zu „Der große Mann und das kleine Mädchen“

  1. Ich kann die Situation und den Gefühlsaufruhr bzw das Unwohlsein,
    obwohl man eigentlich alles richtig gemacht hat, völlig nachvollziehen.
    Habe ähnliches vor einigen Wochen erlebt, als ein Mädchen mit dem Roller gestürzt ist. Sie und ihre Freundin lehnten jede Hilfe ab, auch das Angebot, ihre Eltern anzurufen oder ihren Roller zu Fuß nach Hause zu bringen.
    Würde ich es wieder so machen? Vermutlich schon. Das weinende Mädchen und ihre durch den Sturz erschreckte Freundin ignorieren? Das entspricht nicht meinem Naturell.

  2. So ist das heute in unserer Zeit…
    Vor Jahren schon hatte ich beruflich mit einem Organisten einer ev Kirchengemeinde zu tun der im Verdacht stand im Kindergottesdienst Mädchen angegrapscht zu haben….ob’s so war ????
    Mich hat das geprägt, bin Mutter u Oma von 5 Mädels, ….Sorry schwer verdaulich…Aber natürlich würde ich an Mannes Stelle helfen in der Not

  3. Schaltet eure Handys aus ! Redet miteinander ! Grüßt euch ! Nehmt euch als Menschen wahr ! Die Technik verunmenschlicht die Gesellschaft, macht jeden zum Objekt. Künstliche Intelligenz wird das potenzieren. Schalt mal aus, schalt mal ab, hör zu ! Besinnt euch auf das Menschsein. Merkt denn niemand was da gerade passiert ?

  4. Überall in der Gesellschaft herrscht Konkurrenz und Mißtrauen. Entsprechend kann jemand der ohne eigenen Vorteil für sich Hilfe anbletet nur böses im Schilde führen.

    Mittlerweile scheint es eher gesellschaftlich akzeptabel zu sein, wenn beispielsweise jemand auf der Straße stürtzt, ihn auszulachen und Handyvideos zu machen, statt ihm zu helfen.

    Diese Entwicklungen sind nicht umkehrbar und werden sich in der Zukunft vermutlich nur noch verschlimmern.

    Werte sind manchmal sogar was nützliches, sofern man sie nicht instrumentalisiert um ein rückwärtsgewandtes auf Hass basierendes Weltbild zu vertreten.

  5. Ganz ihrer Meinung lieber Martin Rausch.
    Leider schauen viele weg, aber Gottseidank gibt es auch noch viele hilfsbereite Menschen.
    Bewahren wir den Glauben an das Gute im Menschen.

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