Das Herz verkümmert, die Ränder wuchern

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Während gesichtslose Neubaugebiete Land und Landschaft vereinnahmen, bluten vielerorts die Dorfkerne langsam aus

Auch wenn uns die Städter hin und wieder als Landeier belächeln, können wir Kraichgauer doch auf unsere ureigene Kultur stolz sein. Durch unsere fruchtbaren Böden hat sich die Landwirtschaft in den letzten Jahrhunderten stetig weiterentwickelt, Land und Leute ernährt, sie durch manche Krise getragen. Der Fortschritt in unserem Land der tausend Hügel war immer pragmatisch, immer direkt am Puls faktischer Notwendigkeiten zu messen.

Nicht minder stolz können wir auf unsere Baukultur sein. In unseren Breitengraden finden sich einige der schönsten Fachwerkbauten weit und breit. Ingenieurtechnische Meisterleistungen, die noch heute ihresgleichen suchen. Ja, die Kraichgauer wissen schon lange wie man baut. Durch Beobachtungen und Erfahrungen ganzer Generationen entstanden hier komplexe wie auch einfache Bauwerke, die auf ein feines Gespür und fundiertes Wissen über Bauphysik sowie den Anforderungen unseres heimischen Grundes und unseres Klimas schließen lassen.

Die Wertschätzung für diese heimischen Errungenschaften scheint aber immer weiter zu verblassen. Anders lässt es sich kaum erklären, dass die historischen Bauwerke in unseren Dorfmitten immer weiter verfallen, während am Ortsrand gesichtslose und uniforme Neubaugebiete wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Tristesse dieser Neubauviertel ist für echte Liebhaber Kraichgauer Baukunst kaum zu ertragen. Eine Hutschachtel vom Reißbrett, oder gleich ganz aus Fertigbauteilen zusammengesetzt, steht dort neben der anderen. Jeder dieser Orte gleicht jedem beliebigen anderen, alle zeichnet eines aus: Das Fehlen jeglichen Charakters.

Nun könnte man freilich sagen: Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Der Wunsch etwas eigenes zu erschaffen, ein eigenes Heim zu errichten, ist durchaus legitim. Wer diesen Anspruch aber zu Ende denkt, der stößt unweigerlich auf unlösbare Widersprüche. Würde jede Generation ihre eigenen Häuser auf unbebautem Grund errichten, würden unsere Dörfer immer weiter wuchern, immer mehr Land verschlingen, immer mehr Grün in Grau verwandeln. Das Neubauviertel von heute wäre der unattraktive Bestand von morgen.

Dieses Szenario ist keine Fiktion, sondern schon längst gelebte Realität. Wer aufmerksam durch die Kraichgauer Dörfer wandert, der findet sie überall in den historischen Ortsmitten: Verlassene Gebäude, die Stück für Stück dem Verfall preisgegeben werden. Klar, auf den ersten Blick machen diese alten Häuser nicht viel her. Wer das Potential hinter ihren schiefen Winkeln, den eingesunkenen Dächern und den staubgrauen Fassaden entdecken möchte, der braucht Visionen, Vorstellungskraft und Mut. Doch die Sanierung eines mitunter Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alten Gebäudes ist ein Abenteuer, das es zu erleben gilt. Oft wartet hinter den Fassaden und Wänden robustes Fachwerk, eine durchdachte Raumaufteilung, energieeffiziente Bausubstanz und das geballte Know-how von findigen Bauherren längst vergangener Zeiten.

Wer einem solchen alten Gebäude die Chance auf einen zweiten Frühling gewährt, wird mit einem einzigartigen Wohngefühl belohnt, das ein Neubau aus Hohlsteinen und Zement niemals zustande bringen wird. Holz, Lehm, Strohmörtel… unsere Ahnen wussten wie man baut, wie man lebende, atmende Wohnstätten erschafft. Mit Materialien aus der Heimat, zu einer Zeit als das Wort Nachhaltigkeit noch gar nicht existierte.

Natürlich hat nicht jedes alte Gebäude die Jahrzehnte unbeschadet überstanden, bei manchen lohnt sich die Sanierung schlicht nicht mehr. Nichts schadet einem Haus mehr, als lange Zeit unbewohnt zu bleiben. Ohne die Menschen verkümmert ein Gebäude irgendwann unweigerlich, doch mit etwas Liebe und Hingabe kann solch ein alter Kasten auch noch heutigen und zukünftigen Generationen als zuverlässiges und gemütliches Zuhause dienen.

Kein Zweifel, die Sanierung eines alten Hauses ist eine große Aufgabe. Sie setzt Zeit voraus, auch Geld und vor allem Leidenschaft und Geduld. Man kann nur jedem danken, der sich diesem Abenteuer stellt. Schließlich sind es genau jene ehrgeizigen Bauherren und Frauen, die unsere Kraichgauer Baukultur bewahren, dem Ausbluten unserer Dörfer und dem Raubbau an Natur und Landschaft etwas handfestes entgegensetzen. Ihnen gilt mein Dank und meine Hochachtung!

Ein persönlicher Beitrag von Stephan Gilliar

PS: Ich selbst lebe in einem Haus das Ende des 18. Jahrhunderts errichtet wurde. Von einfachen Bauern mit der Kraft ihrer Hände und ihrer starken Rücken. Ich habe mich nie in meinem Leben irgendwo so wohl gefühlt wie hier. Diesem Haus wohnt eine lange Geschichte, ein guter Geist inne. Es fordert mich, das will ich nicht verhehlen. Immer gibt es irgendetwas zu tun, irgendetwas zu reparieren, irgendetwas auszubessern. Und wehe man will etwas an der Wand oder gar an der Decke befestigen…(Altbau-Bewohner wissen wovon ich spreche ;-) Mir macht das Freude, auch wenn es zuweilen wie eine Sisyphus Aufgabe anmutet. Ich finde die Vorstellung aber wunderbar, dass dies schon viele Generationen vor mir getan haben und – wenn ich meine Aufgabe gut mache – es noch viele Generationen nach mir tun werden.

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11 Gedanken zu „Das Herz verkümmert, die Ränder wuchern“

  1. Endlich mal ein Artikel, der die Situation realistisch beschreibt.
    Wer will denn in den alten Häusern im Ortskern wohnen, wenn der ganze Verkehr durchdonnert? Die alten Häuser stehen für die Identität des Kraichgaus, nicht die seelenlosen, die Landschaft verkrebsenden Neubausiedlungen. Aber damit wird noch geworben und diese sollen noch mehr werden (siehe Kraichtal).
    PS: wir wohnen in einem alten Bauernhaus von 1911. So ein Abenteuer hört nie auf!

  2. AUch ich lebe in einem Haus das mittlerweile stolze 130 Jahre Ist.
    Viel Geschichte durchgemacht hat und viele Menschen aus einer Familie hier gelebt haben.
    Die jungen wollten es nicht nehmen,also haben wir es gekauft vor etlichen Jahren und auch von Grund auf saniert.
    Ich finde es immer nur schade ,daß grade alte Häuser aber lieber leer stehen gelassen werden als mit dem Preis runter zu gehen.Das wird sicher öfters der Fall sein.Ich selber kenne 2 solche Fälle und finde es persönlich sehr sehr schade.
    Bei aller Nostalgie darf man nicht vergessen, eine Sanierung kann manchmal mehr kosten als ein Neubau. Ich würde trotzdem immer wieder ein altes Haus nehmen,denn das lebt.

  3. Unser Haus ist auch über 100 Jahre alt. Und hält nochmal so lang, wenn es bewohnt und in Schuss gehalten wird. Oder nicht abgerissen werden muss, weils irgendwas im Weg steht.
    Von der Nachhaltigkeit können die neuen Baupfuschbuden nur träumen!

  4. Die Grünen haben es vor Jahren schon berechnet: wenn wir so weiterbauen und Flächen versiegeln, haben wir im Jahr 2060 in BaWü kein Grünland mehr. Schreckliche Vorstellung, oder?

  5. Eigentlich gehört ein Abrissverbot her.
    Man/frau stelle sich die Orte vor ohne die alten Häuser! Oder so eine Stadt wie Eppingen!
    Dabei ist vielerorts schon so viel gegangen (worden)…einfach nur traurig!

  6. Die Grünen sind aber auch dafür verantwortlich das niemand mehr solche Häuser haben will zu viele Bestimmungen Verordnungen und seit neuestem auch noch die Energieeffizienz das ist der Tot der alten und auch der noch nicht ganz so alten Anwesen in schade drum.

  7. Also wir haben so ein altes Haus saniert. Uns haben die Grünen da keine Steine in den Weg gelegt. Allenfalls die Stadtvewaltung mit teils abwegigen Fassadenfarbvorgaben oder Nichteinhaltung ihrer eigenen Verordnungen bzw. völlige Untätigkeit oder sogar Drohungen.
    „Gerettet“ hat uns damals das Regierungspräsidium, dort war noch eine gewisse „Restkompetenz“ vorhanden.

  8. T.m.: ich bewohne ein 130 Jahre altes Bauerngut mit einem Bauerngarten ; dieser Artikel hat es genau getroffen ,(und meinem Selbst tuts gut ,zu wissen man ist nicht alle alleine); ich denke oft mein Haus ist ein lebendiger Organismus („mein Haus lebt regelrecht“),und apropo Bauphysik kein Schimmel ,gesunde Raumluft,und der Garten (bepflanzt mit alten Obstsorten)lebt mit jeglichem Getier (Eidechsen,Frösche ,Insekten (selbst große Schmetterlinge)mich stimmt es unendlich traurig diese neuen Gärten zu sehen (alle irgendwie gleich – Kirschlorbeer ,Bambus etc etc perfekter Rasen( nicht ein Löwenzähnchen) ,(dafür e- Autos ) ,; ich habe aber 20 Jahre gebraucht um dieses „Paradies“ zu schaffen

  9. Ich komme aus Heidelsheim und was hier in den letzten Jahren passiert, deckt sich ganz gut mit diesem Artikel.
    In den letzten 20 Jahren haben wir zwei große Neubaugebiete bekommen. Ausserdem wird jede verfügbare Freifläche in der Ortsmitte bebaut. Der historische Ortskern erinnert an einen einzigen großen Parkplatz. Das Verkehrsaufkommen ist unfassbar hoch. Mehrfamilienhäuser prägen immer mehr das Stadtbild (man schaue sich beispielsweise die ehemalige Gaststätte Adler an und das neu gebaute, daneben ansässige, Haus auf dem Sport Zimmermann Grundstück an). Als alteingesessener Heidelsheimer fühlt man sich zunehmends unwohl im eigenen Ort. Man spürt deutlich, dass die Wohnungsnot in den Städten die Menschen aufs Land treibt. Das Land auf dem jetzt gierige Bauunternehmer das große Geld riechen.

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