Das große Verschwinden

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Restaurants schließen, Unterrichtsstunden fallen aus, Öffnungszeiten werden reduziert. Überall in der Region und fast quer durch alle Branchen fehlt vor allem eines: das Personal.

Um gleich zu Beginn den großen Wilhelm Busch zu verschandeln: Ohne Leute stehen sie dort, die sind alle, alle fort. Gut, im Original geht es mehr um die abgeschnittenen Daumen, aber ob es nun die Finger oder die Leute sind… ohne, fällt jede Arbeit ziemlich schwer. Wer mit wachen Augen durch den Alltag geht, kann sie überall entdecken, die Lücken, die durch fehlendes Personal weit aufklaffen. Es scheint fast, als hätten sich die Menschen in Luft aufgelöst. Mehr oder minder durch alle Branchen zieht sich ein Mangel, besonders eklatant: der Mangel an Mitarbeitern. Restaurants müssen schließen oder können nur eine kleine Karte anbieten, Läden müssen ihre Öffnungszeiten reduzieren, Schulstunden fallen aus, ganze Buslinien werden nicht mehr bedient… Die Probleme sind vielseitig, die ihnen zugrunde liegende Ursache nicht – es fehlt an Personal.

Das Ganze ist so schleichend vorangeschritten, dass wir die Auswirkungen in ihrer Gesamtheit kaum noch greifen können, doch sie treffen jeden von uns – auf die eine oder andere Weise. Es trifft Sie, wenn der Bus ausfällt, der Sie normalerweise zur Arbeit bringt. Es trifft Sie, wenn Sie auf dem Weg dorthin noch eine Brezel kaufen wollen, der Bäcker aber heute erst später öffnet. Es trifft Sie, wenn Sie früher von der Arbeit nach Hause müssen, weil wieder Schulstunden ausgefallen sind. Es trifft Sie, wenn Sie einen wichtigen Brief nicht erhalten, weil der Postbote nicht gekommen ist…

Sie können diese Liste nach Belieben weiterführen, denn das Problem hat sich auf sehr vielen Ebenen unseres Alltags manifestiert. Wir haben exemplarisch mit Vertretern unterschiedlicher Branchen gesprochen, um mehr über ein Problem zu erfahren, das sich in manchen Fällen längst zur existenziellen Bedrohung mancher Betriebe gemausert hat.

Bäckermeister Carsten Föckler

Fangen wir doch früh am Morgen an, dann, wenn es uns allen nach frischen Brötchen und einer Tasse Kaffee gelüstet. Wo bekommen wir das? Natürlich beim Bäcker. In Unteröwisheim beispielsweise liegt auf dem Weg zur Schule eine kleine Filiale des Gochsheimer Bäckermeisters Carsten Föckler. Gefühlt jedes zweite Schulkind hat sich hier über viele Jahre hinweg auf dem Weg zur Schule mit einer Butterbrezel, einem Pausenbrot oder einer Flasche Schokoladenmilch versorgt. Damit ist es seit geraumer Zeit vorbei, denn die kleine Filiale ist geschlossen, genauso wie die ein paar Straßen weiter im alten Ortskern von Unteröwisheim. Der Grund dafür liegt nicht etwa in der mangelnden Rentabilität oder in den fehlenden Kapazitäten der Backstube – nein, es fehlt einfach an jenen Menschen, die bereit sind, früh morgens aufzustehen, um den Kids ihre Brezel zu schmieren oder die Schokomilch zu verkaufen, erzählt uns Carsten Föckler traurig. Wo die alle hin sind, wollen wir wissen… Eine Frage, deren Antwort er einfach nicht kennt, sagt Carsten und zuckt mit den Achseln. Seit Corona sei das alles den Bach runtergegangen, erzählt er. Seither findet er noch nicht einmal Mitarbeiter, die bereit wären, 2-3 Stunden am Tag zu arbeiten – selbst damit wäre ihm schon geholfen. Für den Bäckermeister ist das nicht nur ein Ärgernis, sondern auch ein handfester wirtschaftlicher Nachteil. Beide Filialen in Unteröwisheim liefen gut, doch ohne Menschen gibt es kein Geschäft. „Viele sind der Meinung, dass sie unterm Strich nicht viel weniger verdienen würden, wenn sie gar nicht arbeiten“, weiß Carsten. „Wenn sie dann auch noch mit dem Auto von weiter weg zur Arbeit kommen müssen, ist der Fisch schon geputzt.“ Seiner Meinung nach ist auch das Schulsystem schuld an der Misere. „Alle wollen nur noch aufs Gymnasium, keiner will mehr ins Handwerk“, sagt er. Auch das Verschwinden der Hauptschulen sei hier keine Hilfe gewesen. „Früher bei uns in der Klasse sind von 30 Kindern vielleicht zwei aufs Gymnasium gegangen, der Rest auf die Realschule und die Hauptschule.“ Eigentlich müsste heute jeder erst mal einen Beruf erlernen, findet Carsten Föckler, danach könne man ja immer noch studieren.

Chris und Annie in ihrem Bistro in Heidelsheim

Auch in der Gastronomie sind die Sorgen groß, der Mangel an Personal noch größer. Nur eine schnelle Recherche unter Bruchsaler Gastronomen zeigte ein erschütterndes Bild. Nicht wenige mussten in den vergangenen Monaten bereits ihr Angebot deutlich reduzieren, andere können gar keine warme Küche mehr anbieten, sogar personalbedingte Schließungen waren dabei. Anni Bannholzer, die im Stadtteil Heidelsheim ein Bistro betreibt, wundert das nicht. Es ginge mittlerweile nicht mehr darum, gute Leute zu finden, es ginge nur noch darum, überhaupt Leute zu finden. Auch sie sieht diesbezüglich die Corona-Jahre und die Lockdowns als Zäsur. „Die jungen Leute wollen lieber ihr Wochenende, die Feiertage und die Abende für sich, eben all die Freizeit, die sozialen Kontakte, die ihnen während der Pandemie nicht ermöglicht wurden“, zeigt sich Anni gleichermaßen resigniert wie verständnisvoll. Hinzu kommt, dass die Jobs in der Gastronomie weder leicht noch überirdisch gut bezahlt sind. Die Kundschaft sei teilweise auch schwieriger geworden, habe höhere Ansprüche, gebe weniger Trinkgeld, weiß Anni aus eigener Erfahrung. Auch der Ton sei hier und da ruppiger geworden, sie selbst habe schon schlaflose Nächte gehabt, wenn ein Gast sie hart angegangen ist, und habe auch schon in Tränen aufgelöste Mitarbeiterinnen beruhigen müssen nach einem solchen unschönen Kontakt, erzählt sie. Auch nicht gerade förderlich für eine langfristige Bindung der Mitarbeitenden sind die saisonalen Schwankungen in der Gastronomie. Während der Bedarf im Sommer hoch ist, setzen manche Betriebe die Anstellung im Winter einfach aus – unschwer nachvollziehbar ein großes Manko. Anni Bannholzer geht hier einen anderen Weg, beschäftigt das Personal über das ganze Jahr hinweg, auch wenn im Winter dann manchmal mehr Menschen im Bistro stehen, als eigentlich notwendig. Anders geht es aber nicht, weiß Anni genau – Loyalität muss in beide Richtungen fließen.

Die Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal

Extrem weh tut der Personalmangel vor allem aber auch in den pädagogischen, den sozialen und den Pflegeberufen. Mangelnde schulische Ausbildung, fehlende Betreuung in Kindergärten oder Pflegeheimen verlagern die Probleme hinein in die Familien und verschärfen damit wie in einem Teufelskreis die Gesamtproblematik immer weiter. Im schulischen Bereich versucht man dem Mangel mit Quereinsteigern oder verkürzten Ausbildungen zu begegnen, doch damit einher geht natürlich auch eine Reduzierung der Ausbildungsqualität. In der Pflege versucht man hingegen kreativ zu sein, die Attraktivität der Arbeitsplätze weiter zu steigern, um so Menschen dafür begeistern zu können. An den RKH-Kliniken, von denen es im Land gleich mehrere gibt – hier in der Region wären es die Fürst-Stirum-Klinik in Bruchsal sowie die Rechbergklinik in Bretten – ist das Thema Fachkräftemangel in jedem Fall eine große Herausforderung, erzählt Alexander Tsongas, Abteilungsleiter Unternehmenskommunikation und Marketing der Regionalen Kliniken Holding. Verschärft wird die Situation durch temporäre Engpässe wie beispielsweise die alljährliche Grippesaison, aber auch den anstehenden Wechsel der geburtenstarken Boomer-Jahrgänge in den Ruhestand. Um dennoch genügend Fachpersonal für den reibungslosen Betrieb der Häuser der RKH gewinnen zu können, setzt das Unternehmen auf eine breit angelegte Strategie. Zum einen versuche man im Ausland qualifizierte Fachkräfte anzuwerben, zum anderen arbeite man stets daran, sich als Arbeitgeber immer attraktiver aufzustellen, erzählt Alexander Tsongas. Dazu gehören beispielsweise weitreichende Ausbildungs- und Fortbildungsprogramme, sogar die Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen, aber auch Benefits wie eine attraktive Krankenzusatzversicherung, Gesundheitskurse, Yoga oder ein Lebensarbeitszeitkonto, mit dessen Hilfe man früher in den Ruhestand gehen oder auch ein Sabbatical einlegen könne.

Bürgermeister Markus Rupp

Der Mangel an Arbeitskraft macht aber nicht nur dem privaten, sondern auch dem öffentlichen Sektor zu schaffen. Auch in den Gemeindeverwaltungen im Kraichgau ist die Not teilweise groß, teilweise sind hier wichtige Abteilungen entweder unterbesetzt oder im schlimmsten Fall gar nicht besetzt, erzählt uns Bürgermeister Markus Rupp aus Gondelsheim. Gerade zum vergangenen Jahreswechsel sei in seiner Gemeinde derart Land unter gewesen, wie er es in seinen bald 30 Jahren Amtszeit noch nie erlebt habe, berichtet er. In Gondelsheim war die Situation teilweise so gravierend, dass mit dem Ordnungsamt, dem Bauamt und dem Hauptamt gleich drei zentrale Ämter ohne Führung waren – mit all den Einschränkungen und Problemen, die sich daraus ergaben. Während der vergangenen Kommunalwahlen blieb der Verwaltung überdies nichts anderes übrig, als den ehemaligen Hauptamtsleiter im Ruhestand zu bitten, noch einmal zurückzukehren. Hätte dieser der verzweifelten Bitte seines ehemaligen Arbeitgebers nicht entsprochen, wäre die Wahl – gelinde gesagt – schwierig geworden. Um die offenen Stellen zu besetzen, hat Markus Rupp alle Register gezogen, alle Quellen angezapft und Wege eingeschlagen, die er bis dahin niemals gehen musste, zum Beispiel die Konsultation von spezialisierten Agenturen. Letztlich gelang es der Gemeinde, die vakanten Positionen zu besetzen, doch in trockenen Tüchern sei damit natürlich nichts. Auch andere Kommunen seien auf der Suche, Städte könnten teilweise attraktivere Besoldungsstufen anbieten, in Sicherheit könne man sich deshalb nicht wiegen, fasst der Bürgermeister den Status quo ernüchternd zusammen. Besonders die demografische Entwicklung ist für den Verwaltungsapparat ein großes Problem. Die Älteren gehen in Rente, die Jüngeren zieht es aber nicht zwangsläufig in die Verwaltung, weiß Markus Rupp. Das Argument des sicheren Hafens in der öffentlichen Verwaltung sei schon längst nicht mehr so stark, wie es das vor Jahrzehnten noch war. Vielleicht wird die wirtschaftliche Krise, der wir entgegensteuern, hieran etwas ändern, fügt der erfahrene Kommunalpolitiker hinzu, nicht ohne sich des Zynismus dieser Aussicht bewusst zu sein. Um die offenen Stellen im Gondelsheimer Rathaus zu besetzen, hat sich die Gemeinde einiges einfallen lassen: flexible Arbeitszeiten, ein attraktives Arbeitsumfeld und kleine Vergünstigungen wie beispielsweise Wertgutscheine, einzulösen in den örtlichen Geschäften.

Einzelhandel, Gastronomie, Pflege oder Verwaltung – nur ein paar Beispiele für Branchen, die mit dem omnipräsenten Personal- und Fachkräftemangel zu kämpfen haben. Patentlösungen gibt es nicht, die Ursachen für den Mangel sind dafür zu vielfältig. Manche unserer Gesprächspartner sehen das Problem in den politischen Rahmenbedingungen, in den noch zu attraktiven Sozialleistungen, in der Motivation der Menschen und in vielen kleinen und großen Gründen mehr. Die Bundesagentur für Arbeit erkennt mittlerweile gravierende Mängel in der Personaldecke in jeder sechsten Branche, verzeichnet hunderttausende offene Stellen und Ausbildungsplätze im ganzen Land. Wer nach den Gründen an offizieller Stelle sucht, stößt auf die sich bereits im Beitrag herauskristallisierten Ursachen wie den demografischen Wandel oder eine Verschiebung von Arbeitskraft im Kielwasser der Corona-Pandemie zwischen den Branchen. Wer nach einer Lösung sucht, kommt schlicht und einfach nicht umhin, auch die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte als maßgeblichen Faktor zu akzeptieren – ein Themenkomplex, der angesichts der sich rapide verändernden politischen Stimmung in manchen Teilen des Landes aber seinerseits mit großen Herausforderungen konfrontiert ist.

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3 Gedanken zu „Das große Verschwinden“

  1. Zu wenig ausgebildet, schlechte Bezahlung, wenig Wertschätzung, Preistreiberei und steigende Kosten, fehlende Perspektiven, kaum Entwicklungsmöglichkeiten, Schönschwätzerei…also mich wunderts nicht.
    Im Sommer in Frankreich hatte ich diese Eindrücke nicht.

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  2. Vielleicht liegt es ja doch daran, dass das Bürgergeld in seiner Ausgestaltung zu hoch ist, so dass die geringer bezahlten Jobs / klassischen 2.Jobs einfach nicht mehr lukrativ sind und man sich das Geld lieber „beim Staat“ holt.

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