Auf der Suche nach dem verschwundenen Dorf

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Tief in der wilden Wutachschlucht befand sich einst der kleine Weiler Bad Boll, bis er vor 30 Jahren einfach verschwand.

Um die Wutachschlucht im Schwarzwald ranken sich viele Mythen und Legenden. Warum das so ist, wird dem wagemutigen Wanderer beim Anblick der bis zu 170 Meter hohen, steilen Felswände zu beiden Seiten des kleinen Flüsschens Wutach sofort klar. Eingedenk der Naturgewalten die nötig waren um diese einzigartige tiefe Narbe in das Land zu schlagen, wirkt der Mensch gerade zu klein und unbedeutend. Bis zur touristischen Erschließung der Schlucht im 19. Jahrhundert war sie im Grunde reine Wildnis, für die Menschen kaum erreichbar. Die schmalen Pfade an ihren Rändern, über die jedes Jahr tausende Touristen wandern, wurden erst um 1904 durch den Schwarzwaldverein und dem genialen Ingenieur Karl Rümmele erschaffen. Durch seine Wege und mitunter raffinierten Brückenkonstruktionen erschloss sich erstmals die wilde Wutach in ihrem tiefen Bett den Augen der breiten Öffentlichkeit.

vor 120 Jahren wurde der touristischer Pfad durch die Wutachschlucht erschlossen

Hinab zur Wutach hat es die Menschen im Schwarzwald aber schon weit vorher gezogen. Nahe der alten Burg Tannegg – heute nur noch eine Ruine – wird bereits in alten Schriften aus dem 15. Jahrhundert von einer Schwefelquelle berichtet, in deren Nähe ein kleines Badehäuschen und später dann der Badhof errichtet wurde. Gegen 1839 wurde die alte Quelle neu gefasst und der Badhof zu einem Gasthaus mit angegliederte Badeanstalt erweitert. Durch die äußerst wohlwollende Analyse des Quellwassers durch einen Bonndorfer Apotheker ausgelöst, verbreitete sich die Nachricht um dessen vermeintlich heilende Kräfte schnell in den umliegenden Dörfern. Angeregt durch das große öffentliche Interesse entstand nun in der Schlucht eine umfangreiche, kleine Siedlung – bestehend aus einem Gasthaus, einem Tanzsaal, einem Waschhaus und mehrerer weiterer Gebäude.

Die alte Badkapelle ist das letzte verbliebene Gebäude des alten Bad Boll

Seine Blütezeit erlebte das kleine Bad Boll, dass übrigens nichts mit seinem deutlich größeren Namensvetter im Landkreis Göppingen zu tun hat, dann Ende des 19. Jahrhunderts. Nachdem das Großherzogtum Baden die kleine Liegenschaft an den damaligen Freiburger Oberbürgermeister Schuster verkauft hatte, investierte dieser weiter in Bad Boll und modernisierte den kleinen Weiler zu einem hocheffizienten Kurbetrieb. Alsbald fanden sich am Grund der Schlucht ein Kurhaus mit einem prächtigen Tanzsaal in filigranem Jugendstil, ein Hotel und rund um die Quelle ein florierender Badebetrieb. Um die Anlage mit Strom zu versorgen wurde ein kleiner Teil der Wutach ausgeleitet, deren Wassermassen mithilfe einer Turbine Elektrizität erzeugen. Damit konnten nicht nur die Gebäude versorgt werden, sondern auch ein Springbrunnen im Kurpark betrieben, eine Fahrt mit schwebenden Gondeln über die Wutach und sogar eine imposante Beleuchtung des kleinen Wasserfalls nahe der Burgruine realisiert werden. Letzterer war über eine aufwendig angelegte Allee entlang der begradigten Wutach von der kleinen Siedlung aus zu erreichen. Diese “Engländer Allee” genannte Passage, existiert noch bis zum heutigen Tage.

Überreste der Engländer Allee und der Felsenweiher

Nach dem Tod Carl Schusters wurde ein Fischerclub aus London neuer Besitzer der Anlage. Die neuen Eigener nutzten die kleine Siedlung für die Fischzucht und für den Fischfang, der Kurbetrieb wurde zunehmend zur Nebensächlichkeit. Diese Ära endete 18 Jahre später im Sommer 1912, als der Fishing Club London Bad Boll wieder verkaufte. Eine Weile lang nutzte die allgemeine Ortskrankenkasse AOK dann Bad Boll als Erholungsheim für Kassenpatienten, ein ähnliches Konzept verfolgte im Anschluss ein weiterer Besitzer bis in die 30er Jahre hinein. Während des Zweiten Weltkriegs kam der Kurbetrieb dann fast gänzlich zum Erliegen, erst später nutzten die französischen Besatzungstruppen Bad Boll als Erholungsheim für Soldatenkinder.

Der Boller Wasserfall an der Burghalde

Durch die vielen Besitzerwechsel, die unterschiedlichen verfolgten Konzepte und nicht zuletzt die Wirren des Krieges, verfiel Bad Boll in dieser Zeit zusehends, eine Modernisierung wurde perspektivisch immer umfangreicher, immer teurer. Dennoch erwarb 1960 ein Freiburger Arzt die kleine Siedlung um hier einen Klinikbetrieb aufzubauen. Um 1968 ermittelten schließlich die Behörden gegen besagten Arzt, dem in der Bad Boller Klinik mitunter gewerbsmäßige Abtreibungen nachgesagt wurden. In Folge wurde die Klinik wieder geschlossen, woraufhin ihr Besitzer eine Therapieeinrichtung für Suchtkranke in den alten Räumlichkeiten etablierte, was wiederum nicht gerade auf Gegenliebe in den benachbarten Gemeinden stieß. Unter bisher ungeklärten Umständen ging schließlich im April 1975 das große Kurhaus in Flammen auf, ein Jahr später fand sein Besitzer den Tod und wiederum ein Jahr später wurde die kleine Siedlung faktisch aufgegeben. Mehrere Jahre lang stand Bad Boll leer, ragten die Brandruinen des einstigen Kurhauses in den Himmel.

Bundesweite Beachtung erlangte Bad Boll dann noch einmal Ende der 70er Jahre, als nach der Entführung Hanns Martin Schleyers durch die Rote Armee Fraktion, die verlassene Siedlung als möglicher Unterschlupf der Terroristen in Betracht gezogen wurde. Eine Durchsuchung der verlassenen Gebäude durch das Bundeskriminalamt 1977 führte jedoch zu keinem Ergebnis.

Überreste der alten Burg Tannegg

Ein letzter Funken Leben durchzuckte Bad Boll schließlich Anfang der 80er Jahre, als nach einem erneuten Verkauf hier eine Waldschenke und ein Kiosk errichtet wurden. Der angestrebte Neubau eines Beherbergungsbetriebes wurde allerdings durch die Behörden nicht genehmigt. Zu dieser Zeit zerstörte ein Hochwasser in der Wutachschlucht den kleinen Kanal für das Kraftwerk der Siedlung, woraufhin diese mit einem schweren Dieselaggregat mit Strom versorgt werden musste. 1990 stand dann Bad Boll einmal mehr zum Verkauf, doch diesmal machte das Land Baden-Württemberg von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch und ordnete den Abbruch der Siedlung um 1992 an.

Heute erinnern nur noch die Badkapelle, die durch ehrenamtliche Helfer gerettet werden konnte, die nach wie vor sprudelnde Heilquelle, die alte “Engländer Allee” sowie die Badeteiche an den einstigen Kurort Bad Boll. 2017 folgte der bislang letzte Akt im Drama des Niedergangs. Durch ein Unwetter lösten sich 50.000 Kubikmeter Geröll aus der Wand der Schlucht und verschütteten den Zugangsweg nach Bad Boll unwiederbringlich.

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