Meiner Menzinger Oma gewidmet
Da steht Sie in der Stille des grauen Tages, mitten auf dem Friedhof in Menzingen und liest auf den Grabsteinen die Namen all jener Menschen die früher ein Teil ihres Lebens gewesen sind. Die Haut dünn wie Papier, die zitternden Hände auf den Stock gestützt, das Haar schlohweiß. Über 90 Jahre ist es her, dass sie als kleines Mädchen durch den Ort gelaufen ist, vorbei an den wenigen Häusern voller einfacher und liebenswerter Menschen. Ihre Großmutter hatte eine Gaststätte im Dorf, konnte Hilfe immer gut gebrauchen und so half sie Sommer um Sommer der geliebten Oma bei ihrem Tagewerk. Sie kann sich noch an so vieles erinnern, was damals geschehen ist. An den kleinen Wasserlauf im Keller, in dem die Großmutter die Bierflaschen für die durstigen Bauern gekühlt hat, an den Geruch der frischen Milch die im emaillierten Topf auf dem Kohlenherd dampfte und an den Wind in ihren Haaren wenn es mit dem Pferdewagen über den Landskopf zum Onkel und zur Tante nach Landshausen ging.
Von all dem ist kaum noch etwas übrig geblieben. Ihr Mann, ihre Geschwister und fast alle Schulfreunde leben schon längst nicht mehr. Mit der heutigen Welt, all den Fremden und dem sich selbst verschlingenden Gebot der Schnelligkeit kann sie nichts mehr anfangen. Ihr kleines Haus ist ein letzte Lichtung des Gestern im gefräßigen Mahlstrom der Zeit. Alle Möbel hat sie noch von ihrer Großmama übernommen und seit ihrem Einzug vor vielen Jahrzehnten nicht einmal verrückt. Die Bilder an der Wand zeigen Gesichter die in ihren Rahmen so verblichen sind, wie in der Erinnerung der Welt um Sie herum. Sie hält am Gewohnten und Vertrauten noch so lange fest wie sie nur kann. Die Kaffemarke ist die Gleiche wie vor 60 Jahren und das Duftwasser, das sie tröpfchenweise auf die dünnen Handgelenke reibt, wird schon ewig nicht mehr hergestellt.
Hier in ihrem Haus trotzt sie dem Sog der Zeit so gut sie noch kann. In die nahe Stadt fährt sie schon lange nicht mehr, obwohl Sie dort einst gelebt und geliebt hat. Die vertrauten Straßen und Gebäude sind längst verschwunden und in der Straßenbahn steht kaum noch jemand auf um ihr den Platz freizumachen. Sie weint um das Land und was aus ihm zu werden droht, würde diese Welt lieber mit Gewissheit verlassen, dass alles auf den rechten Pfad zurückfinden möge…
So bleibt Sie lieber daheim, hört die Platten längst vergessener Künstler und wartet. Wartet darauf dass die Wellen des Wandels über ihr zusammenschlagen. Sie hat ihren Frieden damit längst gemacht. Alles hat seine Zeit – dass weiß niemand so genau wie sie. Jedes Baby das schreiend den ersten Atemzug tut, wird auch irgendwann als alter Mensch die Augen schließen und schweigend diese Welt verlassen. Jedes Haus das gebaut wird, muss irgendwann wieder weichen. Es ist die Natur unserer Existenz – ein ewiges Kommen und Gehen.
Bald wird auch ihre Stunde geschlagen haben. Dann macht Sie etwas Neuem Platz, so neu wie Sie es damals – vor neun Jahrzehnten gewesen ist. Vielleicht sieht Sie dann alle ihre gegangenen Lieben wieder, das würde sie sich so sehr wünschen. Heute ist ihre Zeit noch nicht gekommen, vielleicht auch nicht morgen. Bald kommt Sie ihr Enkelsohn mit seiner Tochter besuchen. Einmal noch will Sie die beiden sehen – will die rosigen, jungen Hände des kleinen Mädchens halten. Die unschuldigen, kleinen Hände die die ganze Reise noch vor sich haben. Es wird sein als ob zwei Wanderer sich treffen. Einer der gerade erst los gelaufen ist, der andere fast am Ende seines Weges angelangt. Sie trägt keine Bitterkeit und kein Bedauern in sich.Wenn es so weit ist, dann weiß Sie sicher: Ich war hier und bin dankbar dafür.
Philipp Martin