Nicht nur in Bretten soll wertvolle Naturlandschaft Beton und Asphalt weichen, auch in anderen Kommunen fallen Bäume und verschwindet weiter fruchtbares Land
Martin Rausch steht auf einer kleinen Anhöhe seines Heimatdorfes Flehingen und blickt hinab auf den Ort und das Meer aus Firmen, Hofflächen und Hallen, das in den letzten Jahren immer weiter in die vormals grüne Ebene hinaus gewachsen ist und auch in Zukunft noch weiter wachsen soll. Demnächst beginnen im Gewann Kreuzgarten die Arbeiten um den 9. Bauabschnitt des Interkommunalen Industriegebiets Oberderdingen-Flehingen. Insgesamt 40 Hektar Fläche wollen die Gemeinden Oberderdingen, Sulzfeld, Kürnbach und Zaisenhausen sowie die Landsiedlung Baden-Württemberg GmbH und die Sparkasse Kraichgau im Zuge dieses Projektes bebauen, umgerechnet sind das 400.000 Quadratmeter oder mehr als 50 Fußballfelder.
“Fruchtbares Land, das uns einfach verloren geht“, stellt Martin Rausch konsterniert fest und schüttelt traurig den Kopf. Was dem erfahrenen Baumschulgärtner besonders sauer aufstößt ist der Umstand, dass auf dem Areal des 9. Bauabschnitts auch jede Menge gewachsener Obstbäume stehen – teilweise bis zu 80 Jahre alt. Den großen Aufschrei, den die höchst umstrittene Fällung dutzender Bäume auf einer Streuobstwiese bei Gölshausen jüngst ausgelöst hat, würde er sich auch hier im Dorf wünschen. Hoffnungen macht er sich allerdings keine allzu großen.. “Naturschutz steht in Oberderdingen nicht gerade oben auf der Agenda“, stellt der Flehinger fest, der selbst jahrelang im Gemeinderat die Ortspolitik aus der Nähe erleben konnte.
Ob all die Bäume wirklich fallen, kann die Gemeinde Oberderdingen auf Anfrage derzeit noch nicht bestätigen und verweist auf die kommende, zweite Beteiligung der Träger öffentlicher Belange und der Öffentlichkeit bezüglich des Bebauungsplanes. Doch welche andere Option sollte es geben, wenn nicht gerade um die Bäume herum gebaut würde… In der Stellungnahme der Gemeinde heißt es deshalb diesbezüglich weiter: “…Steht der Bebauungsplan endgültig fest, kann erst über die konkrete Baumfällung, falls diese notwendig ist, und die damit verbundenen Ausgleichsmaßnahmen gesprochen und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.”
“Ausgleichsmaßnahmen”, bei diesem Wort lacht Martin Rausch trocken auf, weiß er doch, dass junge, frisch gepflanzte Bäume noch Jahrzehnte benötigen, um die CO2 Bilanz gewachsener Baumbestände überhaupt annähernd erreichen zu können. Die Erweiterung des Industriegebietes stellt er daher in Frage, insbesondere ihre Sinnhaftigkeit. In den bereits realisierten Bauabschnitten, sähe man sehr viele Lagerhallen, Logistikbetrieb und kaum echte Innovationen, wie es die Wirtschaftsförderung Industriegebiete Oberderdingen, Sulzfeld, Kürnbach und Zaisenhausen GmbH & Co. KG u.a. auf ihrer Webseite “Station Zukunft” suggeriere, so Rausch.
Als ob das Land unendlich wäre, fragt Martin Rausch sich. Die Natur als Verfügungsmasse? Im Falle der gefällten Obstbäume auf der Streuobstwiese bei Gölshausen, verweist der NABU Bretten auf das im Juli 2020 vom baden-württembergischen Landtag verabschiedete Biodiversitätsstärkungsgesetz. Demnach sind Streuobstwiesen, deren Bestand in den letzten Jahrzehnten dramatisch gesunken ist, durch den Paragrafen 33a des Naturschutzgesetz geschützt und dürfen nur im Ausnahmefall nach behördlicher Genehmigung gerodet werden. Wie der NABU Bretten nach eigenen Angaben ermitteln konnte, wurden dennoch zwischen März 2021 und Februar 2022 54 Rodungsanträge gestellt, von denen 42 genehmigt wurden. Bislang scheint sich dieses Gesetz bzw. dessen Umsetzung als zahnloser Tiger zu entpuppen.
Ob die Baumstücke im 9. Bauabschnitt des Industriegebietes Oberderdingen-Flehingen als Streuobstwiese gelten, ist am Ende vermutlich Auslegungssache. Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg schreibt dazu etwas schwammig: “…Streuobstbestände sind eine einzigartige, historisch entstandene Form des extensiven Obstbaus. Charakteristisch sind starkwüchsige, hochstämmige und großkronige Obstbäume, die in lockeren Beständen stehen.” Eine Definition, die zumindest augenfällig auf die Baumstücke zutrifft, die sich von der Höhenburgstraße gut einsehen lassen.
Als ob das nicht genug wäre, wird in Flehingen auch die Erddeponie “Hasengarten” auf rund 149.000 Kubikmeter Volumen erweitert, auch hierfür sollen nach Martin Rauschs Kenntnis mehrere Bäume fallen. Der zwar unbelastete Boden soll in Teilen dabei auch in einem Landschaftsschutzgebiet abgelagert werden.
“Es ist verheerend, wenn man bedenkt, wie wertvoll unser Land ist” bewertet Martin Rausch die Bauvorhaben der Gemeinde und kann nicht nachvollziehen, wie jede Kommune hier scheinbar nach Gutdünken verfahren und gefühlt beliebig Fläche verbrauchen kann. “Früher habe ich ganz naiv gedacht, da muss doch jemand da oben sein, der da ein Auge darauf hat – offenbar ist dem nicht so”.
Oberderdingen und seine Nachbargemeinden sind bei weitem nicht die einzigen, die derzeit die Erschließung weiterer Wohn-, Gewerbe-, oder Industriegebiete vorantreiben. Beispielsweise auch in Kraichtal, in Ubstadt-Weiher oder Sinsheim laufen die Planungen schon längst auf Hochtouren, stehen teilweise kurz vor ihrer Umsetzung.
Wie zwiespältig die Menschen in der Region diesem Flächenverbrauch gegenüberstehen, zeigt die emotionale Debatte in Bretten-Gölshausen, wo die Abholzung von 40 Obstbäumen zu einem gewaltigen, medialen Echo bis hinauf auf Landesebene geführt hat. Auch wenn der Bedarf an neuem Bauland unzweifelhaft besteht, muss doch die zugrunde liegende Frage erst einmal demokratisch beantwortet werden: Wie viel Grün ist der Kraichgau bereit dafür in Grau zu verwandeln?
Was bringen große Ziele auf nationaler oder europäischer Ebene, wenn jede Kommune, jeder Bürgermeister und „sein“ Gemeinderat grad machen kann, was er will?
Weiter so, dann ist bald alles weg!
Das Thema ist sehr aktuell. BUND und NABU Baden-Württemberg sind sich einig. Sie fordern von der Landesregierung, dafür zu sorgen, dass §33a NatSchG streng ausgelegt wird und sind dafür auch bereit, den Rechtsweg zu beschreiten. „Notfalls müssen die Verwaltungsgerichte klären, wie das Gesetz angewandt werden muss“, so die Landesvorsitzenden.
https://www.bund-bawue.de/service/pressemitteilungen/detail/news/46-naturschutztage-wiesen-und-wald-statt-asphalt/
https://baden-wuerttemberg.nabu.de/news/2023/januar/32745.html
Was bringen Gesetze, wenn sogar diejenigen, die sie machen, sich nicht daran halten oder deren Einhaltung nicht kontrollieren?
Es muss schnell was passieren, sonst ist es zu spät.
Schluss mit den Ausweisungen von Neubau- oder Gewerbegebieten!!! Sofort!!!
Hier wird das wertvollste dem schnöden Mammon geopfert, was wir haben!
Ich zitiere zu diesem Thema einen Text von Häuptling Seattle:
„Erst wenn ihr
den letzten Baum geschlagen,
den letzten Fluss vergiftet,
den letzten Fisch gefangen habt,
werdet ihr feststellen,
dass man Geld nicht essen kann.“
Ausgleichsmaßnahmen:
Hinsichtlich CO2-Bilanz von jungen Bäumen gibt es auch andere Meinungen als die hier geäußerten. Der Wert von Streuobstwiesen, falls sie das sind, liegt auf einem anderen Gebiet.
steuobstwiesenschutz_steinkauz.pdf (nabu.de)
Junge Bäume sind bessere CO2-Speicher (biooekonomie.de)
„ … Erreichen die Wälder ein bestimmtes Alter, sinkt ihre CO2-Aufnahme und die so wichtigen Kohlenstoffsenken verschwinden – außer es kommt zu einer weiteren Aufforstung …“
„ … Ebenso herrscht bislang Unsicherheit, wie sich das Alter der Bäume auf ihre Leistungsfähigkeit als CO2-Senke auswirkt …“
Naturschutz und -erhalt sind leider nur dann wichtig, so lange es keinen Interessenkonflikt gibt. Das ist auf der globalen Ebene nicht anders als in den Gemeinden.
Die paar Obstbäume mit ihrem bescheidenen Gewerbesteuerertrag, wenn sie denn überhaupt welchen generieren, opfert man doch gerne für zukünftige Arbeitsplätze und dicke Gewerbesteuereinnahmen. Auch die, mit dem dadurch (noch mehr) zunehmenden Verkehr einhergehenden, steigenden Emissionen ignoriert man in den Rathäusern gerne.
ALLES ist endlich.
Nur das haben einige noch nicht verstanden…
Zitat:
“…Steht der Bebauungsplan endgültig fest, kann erst über die konkrete Baumfällung, falls diese notwendig ist, und die damit verbundenen Ausgleichsmaßnahmen gesprochen und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden.”
Das führt zu Konflikten, denn § 33a NatSchG gilt schon jetzt (seit 1.8.2020)
Ja, richtig! Dafür gibt es Hinweise des Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg vom 01.04.2021:
https://www.bund-ortenau.de/fileadmin/ortenau/dokumente/natur_artenschutz/20210401-um-hinweise_zur_anwendung_des_paragraph_33a_NatSchG.pdf
Ich bin sehr froh, hier diese Beiträge lesen zu dürfen. Das gibt mir Hoffnung und Erkenntnis.
Schön wäre es, wenn die sogenannten Verantwortlichen das auch lesen würden und endlich die notwendigen Kosequenzen daraus ziehen würden.
Ich lach mich langsam kaputt, was hier abgeht.
Es zählt doch nur eins: Geld!
Unmöglich dieses Vorgehen! Wir sind jetzt schon betroffen als Anlieger und sind fassungslos. Zumal wir seltene Vorkommen von Gottesanbeterinnen in grosser Zahl auf unserer Wiese hatten. Es zählt nur der Mammon, die Heimat wird gnadenlos ausverkauft!!!!!!
Lasst uns doch mal alle aufstehen. Nur so erreichen wir was.
Stehen Sie Martin Rausch denn bei? Wer noch? Oder wissen die übrigen Gemeindemitglieder noch gar nichts von dem Text hier?
Ich glaube, viele Gemeinderatsmitglieder wissen gar nichts.
Schlimmer noch, sie wollen gar nichts wissen.
Nur wenns um Geld geht, schauen sie kurz auf und tagen dann gemütlich weiter…
Gleiches gilt für Verwaltungen und ihrer Chefs, Bürgermeister, Landräte etc.
Und das ist nicht nur in Derdingen und im Landkreis KA so!
Wenn ich irgendwo unterschreiben kann, sehr gerne. Ich werde auch Kontakt zu ihm aufnehmen.