Im Wald der ewigen Kindheit
Seit 1969 staunen Kinder über den Kürnbacher Märchenwald, kommen später gar mit den eigenen Enkeln dorthin zurück
von Stephan Gilliar
Ja, es ist vor allem die Nostalgie, der Blick zurück durch die rosarote Brille auf die eigenen Kindheitstage, die viele Herzen für den Kürnbacher Märchenwald noch heute schlagen lässt. Ich will mich selbst hier gar nicht ausnehmen, erinnere mich noch gut an mein erstes Mal zwischen Schneewittchen, Rotkäppchen und der fröhlichen Waldkapelle.
Es muss irgendwann im Sommer 1986 gewesen sein, als ich mit großen Augen das Drehkreuz passierte und der Märchenwald voller Wunder vor mir lag. Mit offenem Mund stand ich vor den Glaskästen, in deren Inneren sich Szenen aus den vertrauten Märchen in Endlosschleife abspielten Der Wolf in seinem Bett, das Rotkäppchen mit seinem Körbchen davor, die Waldkapelle, die sich mit freundlichem Lächeln in den Augen unablässig von rechts nach links und zurück bewegte. Dazu die unvergessene Stimme von Hans Paetsch, dessen warmes Timbre aus den verborgenen Tonbandgeräten mit brummendem Bass und herrlich-analogem Rauschen die Grimmschen Märchen in kleinen Tranchen zum besten gab, verstummte und durch einen Knopfdruck wieder zum Leben erweckt wurde.
Ich kannte Tripsdrill, ich kannte den Europapark, doch ich liebte den Märchenwald. Denn er war anders, er war etwas Besonderes. All die verborgenen kleinen Attraktionen inmitten der Bäume, unaufgeregt, nicht knallbunt und glänzend, sondern irgendwie besonders. Auf dem Papier konnte er nie mithalten mit den großen Parks, all ihren Fahrgeschäften und Superlativen… doch für mich musste er das auch nie. Es waren vielmehr all die Kleinigkeiten, die ihn so liebenswert machten. Die kleine Mühle, deren Bachlauf aus der Wurzel eines großen Baumes entsprang, all die Zwerge, Igel, Rehe und lächelnden Fliegenpilze, die eingebettet in das Dämmerlicht des Forstes aus einem normalen Wald einen echten Märchenwald machten.
Hier wurde es nie langweilig, die Stunden vergingen wie im Flug. Runde um Runde den kleinen Waldweg entlang, immer wieder stehen bleiben, staunen, zuhören. Immer wieder hinauf auf die große Rutsche, ein paar Runden auf dem kleinen Karussell und wenn die Eltern gnädig waren und genügend Münzen zur Verfügung standen, als krönender Höhepunkt eine Fahrt mit der kleinen Lokomotive oder später auf den knatternde Gokarts.
Ich muss mich entschuldigen, eine objektive Wiedergabe des Märchenwaldes in Kürnbach ist mir schlicht nicht möglich. Für mich ist dieser kleine Flecken Erde ein Stück konservierter Kindheit, das ich heute mit meinem eigenen Nachwuchs neu erleben kann. Seit meine Tochter auf der Welt ist, besuchen wir den Wald, schießen jedes mal ein Foto von ihr in dem ausrangierten Fred Feuerstein Auto, das unkaputtbar zwischen den alten Bäumen parkt. Auf ihrem ersten Foto war sie noch nicht einmal ein Jahr alt, zwischenzeitlich sind 12 weitere hinzugekommen. Vor 30 Jahren war ich es, der auf den alten Fotografien mit Zahnlücke in die Kamera grinste…mit etwas Glück tun es mir irgendwann meine Enkel gleich.
So wie mir, so ergeht es vielen im Kürnbacher Märchenwald. Das wissen auch Oliver und Marlene Winkler, den den kleinen Park vor über 30 Jahren von der ursprünglichen Betreiber-Familie übernommen haben. Tag für Tag sind sie unterwegs, halten die in die Jahre gekommene Anlage in Schuss, reparieren, tauschen aus, erhalten und bewahren. Es gibt immer etwas zu tun, schließlich ist alles Tag für Tag den Jahreszeiten und den Elementen ausgesetzt. Gerade die ersten Attraktionen des Märchenwaldes, die kleinen Schaukästen mit den Szenen aus so vielen Märchen, brauchen viel Liebe und Pflege. Die alte Mechanik muss gewartet werden, die Figuren und auch die Technik. Immer wieder näht Marlene als gelernte Schneiderin neue Kleidungsstücke und Oliver sorgt dafür, dass die Stimme des schon längst verstorbenen Märchenerzählers unverändert durch den Wald schallen kann. Ganz am Anfang kam sie noch von Tonbändern, später von Kassetten, dann von CDs und zwischenzeitlich von MP3s. Der Originalton ist es dennoch, immer wieder überspielt von Medium zu Medium.
Auch wenn es beiden wichtig ist, den Wald in seiner ursprünglichen Form zu erhalten, kommen doch ganz dezent hier und da immer wieder neue Attraktionen hinzu. Die alte Fahrtstrecke für die ferngesteuerten RC Autos hat mittlerweile ausgedient, wurde umfunktioniert zu einem hölzernen Geschicklichkeitsparcours, der sich durch seine natürliche Gestaltung unaufdringlich in die Szenerie des Waldes einfügt. Unverhandelbar ist aber das Schicksal der Märchenkästen, diese werden immer hier bleiben, immer wieder ihre Geschichten erzählen, am liebsten bis in alle Ewigkeit.
Mit der Ewigkeit ist es aber so eine Sache, sie existiert nur in unserer Wunschvorstellung. Alles hat seine Zeit und die von Oliver und Marlene hier im Märchenwald wird sich in den nächsten Jahren allmählich ihrem Ende zuneigen. Beide sind Mitte 60 und wollen oder können in 10 Jahren wahrscheinlich nicht mehr 12 oder mehr Stunden tagtäglich mit der Arbeit in ihrem Märchenwald verbringen. Deswegen läuft derzeit die Suche nach einem würdigen Nachfolger. Es ist ein Job, der nicht einfach so von jedem erledigt werden kann. Es braucht handwerkliches Geschick und das nicht zu knapp, Geduld, keine allzu hohen Erwartungen an Geld und Reichtum und vor allem die Liebe zu dieser kleinen Zeitblase mitten im Kürnbach Wald.
Ich würde mir sehr wünschen, dass sich ein solcher Mensch findet. Ich wünsche es mir für den Märchenwald und ich wünsche es mir für mich selbst, meine Kinder und meine Enkel. Es ist für mich geweihter Boden, die alten Geschichten müssen erzählt werden, Rotkäppchen darf nicht sterben.