Wir dürfen nicht jedem Schreier hinterherrennen

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Über schrille Minderheiten und die fatale Gefahr der einfachen Antworten

Können Sie sich noch an Herrn Turtur aus Michael Endes “Jim Knopf” erinnern? Herr Turtur war ein sogenannter Scheinriese, eine Gestalt die aus der Ferne riesengroß und einschüchternd wirkt, aber immer kleiner wird, je näher man auf sie zugeht. Der gute Herr Turtur, erfunden vor über 60 Jahren, würde wahrscheinlich als Bildnis in jedem Spiegel auftauchen, den man der Diskussionskultur unserer heutigen Gesellschaft nur vorsetzen kann.

Heute wird ein nicht kleiner Teil des gesellschaftlichen Diskurses – die Debatten im Netz und an den Stammtischen, ebenfalls durch Scheinriesen geführt und dominiert. Durch ihre penetrante Beharrlichkeit, durch ihr Fakten-resistentes Gekeife, das mehr auf Lautstärke als auf Inhalte setzt, kommen Sie uns allen dabei sehr viel größer und mächtiger vor, als sie es eigentlich sind. Durch das interaktive Web 2.0 und die vermeintlich sozialen Netzwerke hat jeder eine Stimme erhalten, auch jene, denen man früher völlig zurecht nicht zugehört hat, solche die am Ende des Tresens in ihr Bierglas blubberten. Heute sind sie bei jeder Diskussion lautstark dabei, sind schnell mit einer Meinung und einem Urteil zur Hand, kennen keine Grautöne, sondern nur schwarz oder weiß, nur richtig oder falsch – so einfach kann die Welt sein.

Und die Welt hört ihnen zu und hängt hier und da sogar dankbar und begierig an ihren Lippen, denn was könnte in einem hochkomplexen und mit einem einfachen menschlichen Verstand kaum zu durchschauenden Universum verlockender sein, als einfache Antworten? Es ist genau diese Sehnsucht, die viele in die Arme von Populisten treibt – jene, die uns versichern, das wir nur dies tun müssten um sofort jenes zu erreichen. Wer sich dagegen auflehnt, zurecht relativiert und abzuwägen in der Lage ist, wird oft einfach pauschal abgewertet und delegitimiert. Schnell ist ein Etikett wie “Schlafschaf” oder “Lügenpresse” angebracht, dass den unliebsamen Querulanten sofort als Diskussionspartner auf Augenhöhe disqualifiziert. Auf diese Art und Weise können sogar wissenschaftliche Fakten und bis dato allgemein akzeptierte Wahrheiten zugunsten der Wahrnehmung Einzelner einfach negiert werden.

Weil die gemäßigten Stimmen sich immer weiter zurückziehen, hören wir die verbleibenden schrillen Schreier nur umso lauter und nehmen ob ihrer Beharrlichkeit fatalerweise an, sie stünden für eine Mehrheit in unserer Gesellschaft. Doch dieser Illusion dürfen wir uns nicht hingeben, dürfen nicht akzeptieren, dass kleinste Minderheiten und Partikularinteressen das Vorankommen sabotieren und verhindern.

Doch diese Prozesse sind längst nicht nur im Netz, sondern überall in unsere Gesellschaft, auch auf lokaler und kommunaler Ebene zu beobachten. Auch in den Rathäusern unserer Region herrscht zunehmend Hilflosigkeit, wenn Einzelne aus Egozentrik das Vorankommen effektiv blockieren. Östringens Bürgermeister Felix Geider kann davon ein Lied singen, weiß er doch wie mühevoll jede Art des Fortschritts durch die Begehrlichkeiten einiger Weniger geworden ist. Egal ob beim Hochwasserschutz, beim Straßenbau, bei der Verlegung von Spielplätzen, der Ausweisung von Neubaugebieten, beim Ausbau der Windenergie…. fast immer verhindern einzelne Betroffene unter dem Deckmantel des Anscheins, sie würden im Sinne des Allgemeinwohls handeln, jegliches Vorankommen. Natürlich geht es Felix Geider bei dieser Kritik nicht darum demokratische Prozesse zu verhindern oder diese Stimmen zum Schweigen zu bringen, als Bürgermeister ist es aber seine Aufgabe die eigene Stadt voranzubringen und gemäß den Wünschen der Mehrheit zu entwickeln. Wenn nun aber Einzelne mitunter aus unverhohlener Egozentrik heraus, wichtige Prozesse weitestgehend zum Erliegen bringen, macht das zumindest betroffen und lässt den Wunsch nach mehr Altruismus aufkommen.

Was den Bürgermeister dabei oft nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass viele Menschen nur die Vorteile der Entwicklung für sich in Anspruch nehmen wollen, aber nicht bereit sind, dafür auch ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen. Ich will saubere, alternative Energie, aber kein Windrad vor dem Haus stehen haben… Ich will eine durchdachte Kinderbetreuung in der Gemeinde, aber kein Geschrei der Kids in meinem Garten hören…. Ich will Hochwasserschutz, von den Bauarbeiten aber nicht belästigt werden…. Ich will überall und jederzeit freie Fahrt, aber keine laute Baustelle vor dem Fenster. Diese in sich unlogischen Begehrlichkeiten nach dem Motto “Wasch mich, aber mach mich nicht nass” machen Felix Geider die Arbeit nicht gerade einfacher. “Zu einer Demokratie gehört eben auch, Mehrheiten einfach einmal zu akzeptieren” sagt Felix Geiger und schaut dabei aus einem Bürofenster auf den Kirchberg, der heute immer noch ein Friedhof wäre, hätte sich Östringen damals nicht entgegen der Rufe Einzelner zur Bebauung des heute beliebten Stadtkerns entschieden. “Kompromisse sind wichtig, aber man muss auch streiten können” weiß Geider, der vor zwei Jahren ohne Gegenkandidaten erneut zum Bürgermeister von Östringen gewählt wurde. “Man muss Mehrheiten verteidigen”.

Zuweilen aggressiv ausartende Diskussionen versucht Felix Geider nicht allzu sehr an sich heran zu lassen, denn er weiß genau wie simpel manch einer die politischen Kausalitäten einer Gemeinde einordnet: “Der Bürgermeister hat immer schuld” lacht er und weiß dennoch wie wichtig es ist, trotz all des schrillen Getöses seinen Weg nicht aus dem Blick zu verlieren und der eigenen Linie treu zu bleiben. Hier hält es der Enddreißiger genauso, wie einst Franz-Josef Strauß „Everybody’s darling is sunscht gonz schnell everybody’s Depp.

Eine Sache bereitet Felix Geider aber doch Sorgen und das ist der neuerding scheinbar ungebremste Siegeszug der Populisten. “Irgendwann kommt vielleicht wieder einer mit einfachen Antworten und die Leute glauben ihm, davor habe ich Angst”. Eine Sorge die ganz sicher nicht unbegründet ist – drei Tage nach diesem Interview errang die AFD in Sachsen-Anhalt über 20% alle Stimmen, die meisten davon entfielen auf junge Wähler unter 45 Jahren. Noch mögen die schrillen Schreier zwar Scheinriesen sein, doch wenn wir uns ihnen nicht entschlossen entgegenstellen, kann die kritische Masse auch irgendwann kippen.

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5 Gedanken zu „Wir dürfen nicht jedem Schreier hinterherrennen“

  1. Warum haben die Populisten Erfolg? Weil die sogenannten Volksvertreter den Kontakt zum Volk verloren haben. Diesen Herrschaften geht das Wohlbefinden so ziemlich am atsch vorbei. Und dann sind immer erstaunt wie viele Wähler die AfD gewählt haben. Die finaziellen Auswirkungen der sogenannten Pandemie bezahlt nicht der Erfinder/Hersteller des Impfstoffes BioNTech, der neue Milliadär Ugur Sahin und andere (Frau Klatten), sondern die „kleinen“ Leute. Dort lässt es sich ja am einfachsten holen. Thema Steuererhöhungen.
    Bisher hatte ich mit meinen Einschätzungen immer ins Schwarze getroffen. Jetzt epedemische Notlage bis zum 30. 09. Und dann weiter bis zum Jahresende.

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