Wenn das Kinderzimmer zum Klassenzimmer wird

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“Bildung kann man aufholen, das Leben nicht” – Warum Homeschooling den klassischen Unterricht niemals ersetzen kann

Montagmorgen, überall im Hügelland. Eine weitere Woche im nicht enden wollenden Lockdown-Hürdenlauf nimmt ihren Anfang. Normalerweise würden nun überall in den Küchen des Kraichgau Schulkinder eilig Marmeladenbrote verzehren, mit einer Tasse Kaba hinunter spülen, um noch rechtzeitig den Schulbus zu erwischen. Im Januar des Jahres Nummer zwei nach Corona, hat sich dieses Bild auf den ersten Blick nur leicht, aber in Wahrheit doch einschneidend verändert. Noch immer sitzen die Kinder am Frühstückstisch und schmieren sich ihre Stullen, der Sprint zum Schulbus allerdings entfällt. Stattdessen gilt es nur den Weg ins Kinderzimmer zurückzulegen, manche Kids bleiben auch einfach am Küchentisch sitzen – Homeschooling macht’s möglich.

Um acht Uhr werden Tablets aus dem Standby geholt, Laptops aufgeklappt und Computer hochgefahren. Über den Browser oder entsprechende Apps, werden Microsoft Teams oder Moodle aufgerufen, die Login-Daten eingegeben und schon kann der Unterricht beginnen. Wie dieser Unterricht genau aussieht, dafür gibt es keinerlei zentrale Vorgaben des Kultusministeriums, jede Schule legt für sich die eigenen Standards zurecht. Bestand der Fernunterricht Anfang 2020 noch aus per E-Mail verschickten Aufgabenlisten, greift nun meist eine Mischung aus direkter Ansprache der Lehrer in einer Art virtuellem Klassenzimmer und Phasen, in denen selbständig Aufgaben erledigt werden müssen.

Schulleiter Stephan Walter

Wie aufwendig diese Art des Unterrichts für die Schulen ist, erleben wir bei einem Besuch in der Lußhardt-Gemeinschaftsschule in Forst. Hier treffen wir am Mittwochmorgen auf Klassenlehrer Thorsten Moch, der vor mehreren Bildschirmen gerade mit seiner fünften Klasse interagiert. Die Schule setzt auf das System Moodle, das speziell auf Online-Unterricht abgestimmt und zugeschnitten wurde. Abgesehen von den ersten beiden Schultagen in diesem Jahr, als Server-Probleme den Unterricht mit Moodle unmöglich machten, läuft die Online-Plattform seither offenbar reibungslos. Vor dem virtuellen Unterrichtsbeginn versammeln sich die Schüler in einer Art Dashboard, das Thorsten Moch als “digitale Aula” bezeichnet. Hier können sich die Schüler via Chat austauschen, ein Pendant zum morgendlichen Geplapper auf dem Flur. Da sich alle Schüler mit einer eigenen Kennung einloggen müssen, kann Thorsten Moch problemlos die Anwesenheit aller seiner Schützlinge feststellen. Danach wird unterrichtet, die Webcam des Lehrers ist dabei immer zugeschaltet, Schülern obliegt diese Pflicht allerdings nicht. Thorsten Moch erklärt über das Netz, verteilt Aufgaben und kann Schüler sogar in kleinen Gruppen in digitale Lernräume “verschieben”. Während für uns als Außenstehende die Benutzeroberfläche noch etwas kryptisch anmutet, bewegt sich der erfahrene Pädagoge hier mittlerweile wie ein Fisch im Wasser. Das System sei im Grunde selbsterklärend, auch ältere Kollegen kämen damit problemlos zurecht, berichtet Thorsten Moch nach den ersten Wochen in diesem neuen Format. Für die Schüler/innen als “digitals natives”, ist die “Usability” ohnehin kein Problem – anders als ihre Eltern, sind die Kids ja bereits mit moderner Technik aufgewachsen.

die Lußhardtschule in Forst

So gut der Online-Unterricht an der Gemeinschaftsschule in Forst auch laufen mag, es gibt auch nicht wenige Nachteile. Jeden Tag müssen rund 50 Lehrer gut 500 Schüler in 23 Klassen unterrichten, die Logistik und die technischen Anforderungen dahinter sind nicht von schlechten Eltern. Als eine der wenigen Schulen in der Region hat die Lußhardt-Gemeinschaftsschule Gelder aus dem Digitalpakt abgerufen und damit rund 50 Laptops anschaffen können, doch die Hardware ist nur eine Seite der Medaille. Wer einmal beruflich eine Video-Konferenz veranstaltet hat, der weiß genau, dass es immer Teilnehmer gibt, bei denen irgendetwas nicht funktioniert. Sei es die Internetverbindung, das Mikrofon oder die Kamera… beim Homeschooling ist das freilich nicht anders. Zudem ist das System deutlich aufwendiger zu handhaben, als der Unterricht von Angesicht zu Angesicht in einem Klassenzimmer. Würde Thorsten Moch normalerweise einfach durch die Reihen wandern und mit einem Blick erkennen, ob bei den Schülern alles glatt läuft, müssen jetzt digitale Dokumente transferiert, freigegeben und gesichtet werden. Homeschooling ist für Lehrkräfte ein zeitraubendes Prozedere, nicht wenige reißen gerade viele Überstunden und sitzen bis in den späten Abend an der Vorbereitung, bzw Nachbereitung des digitalen Unterrichts.

Der größte Pferdefuß des Homeschooling, ist aber die fehlende Gemeinschaft. Das weiß man wohl nirgendwo mehr, als an einer Gemeinschaftsschule. “Fernunterricht ersetzt niemals den Präsenzunterricht” stellt Schulleiter Stephan Walter unumstößlich fest. Mit Sorge beobachtet er nicht nur den immensen Arbeitsaufwand seiner Lehrkräfte, sondern auch die Belastungen seiner Schüler/innen und deren Familien. Zwar glaubt er nicht daran, dass durch Lockdown und Fernunterricht nicht mehr zu schließende Lernlücken entstehen, die sozialen Folgen beschäftigen ihn aber durchaus: “Bildung kann man aufholen, das Leben nicht”.

Elternvertreter Ronny Schubert

Eine Herausforderung ist der Fernunterricht nicht nur für die Kinder, sondern auch für deren Eltern. Ronny Schubert, Elternvertreter an der Lußhardt-Gemeinschaftsschule, hat zu Hause gleich drei Kinder, die zeitgleich per Homeschooling unterrichtet werden. Damit deren Kinderzimmer weiterhin unbelastete Rückzugsorte bleiben können, hat er seinen drei Kids Arbeitsplätze in einem anderen Raum eingerichtet. Für den Familienvater, der als Berufssoldat bei der Bundeswehr dient, sind insbesondere die Eltern gefordert, den Kindern hier zur Seite zu stehen. Wer seine Kinder in eine Gemeinschaftsschule gibt, der geht eine Bildungspartnerschaft ein, steht also dafür ein die Kinder innerhalb dieses besonderen, schulischen Konzeptes zu unterstützen. Doch nicht überall ist diese Rückendeckung derzeit möglich. Manche Eltern sitzen parallel zum Homeschooling ihrer Kinder im eigenen “Home Office”, haben keine Zeit um die Kids engmaschig zu betreuen. Andere müssen zur Arbeit, sind also abwesend, während die Kinder zu Hause sitzen. Eine alles andere als optimale Situation.

Corona und die Schule – Zwei unvereinbare Gegensätze, die in den vergangenen Monaten zu interessanten Erkenntnissen führte. So drängt sich der Verdacht auf, dass Schulen für die Politik noch allzu oft eine Art Aufbewahrungsort für Kinder zu sein scheinen, damit deren Eltern arbeiten können, ohne sich aber wirklich mit Ausstattung, Qualität und Perspektive zu beschäftigen. Zum anderen wird mit jedem Tag Homeschooling deutlicher, dass Schulen eben nicht nur Lernorte, sondern auch Orte der Begegnung sind, an denen wichtige Grundbedürfnisse unserer Kinder befriedigt werden. Es bleibt festzuhalten: Egal wie gut und ausgeklügelt der digitale Kontakt auch sein mag, er kann niemals echte, zwischenmenschliche Begegnungen ersetzen.

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