Wäre auch irgendwie geil ohne dich

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Facebook, Instagram und WhatsApp hätten ruhig offline bleiben dürfen

Eine Kolumne von Tommy Gerstner

Freunde, wir haben am Montagabend alle zusammen etwa sechs Stunden in einem Paralleluniversum verbracht. Wir durften durch einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum einen Blick in eine Welt erhaschen, die es so das letzte Mal vor 17 Jahren gab. Anfang der 2000er starteten die sozialen Netzwerke im Internet durch, große Hausnummern wie das damalige MySpace oder das deutsche StudiVZ sind längst verschwunden, übrig geblieben ist Onkel Zuckerbergs Facebook und ansonsten nicht wirklich viel. Jeden Monat nutzen etwa drei Milliarden User auf dieser Erde den Dienst, das ist beängstigend nah an der Hälfte der gottverdammten Menschheit. Mal abgesehen davon, dass es der blanke Wahnsinn ist die potentielle Manipulation eines Gros des adoleszenten Homo sapiens in die Hände eines gewinnorientierten Privatunternehmens zu legen, ist auch die Titulierung “soziales Netzwerk” mittlerweile echter Hohn. Gut, wenn Hass, Häme, Neid, Missgunst, Beleidigungen, anonyme Hetze und Kleingeistigkeiten jeden couleurs die Definition sozialer Interaktion sind, dann passt der Name wie die Faust aufs Auge. Sind wir ehrlich Freunde, die Grundidee Urlaubsbilder mit Freunden, Mama und Papa zu teilen, nach einem Babysitter zu suchen oder einen Wurf junger Katzen in der Nachbarschaft zu verteilen, gehört mittlerweile zu den nachrangigen Motiven, sich im weiß-blauen Gesichtsbuch einzuloggen. Stattdessen nutzen wir unseren, durch die Evolution opponierbaren Daumen, um wie die Schafe die von einem ominösen Algorithmus zusammengestellte Timeline zu durchscrollen und uns streng innerhalb der Grenzen unserer von Facebook geschaffenen Blase zu bewegen.

Doch zurück zum eingangs beschriebenen Kurztrip in besagtes Paralleluniversum. Am Montagabend fielen für etwa sechs, historisch lange Stunden die großen Onlinedienste Facebook, Instagram und WhatsApp vorübergehend komplett aus. Irgendjemand in Menlo Park hatte falsche Knöpfe gedrückt oder Kabel falsch verbunden, man weiß es nicht genau. So einen langen Ausfall gab es seit Ewigkeiten nicht mehr, alle großen Nachrichtendienste berichteten begeistert über den vorübergehenden Hirntod des Deus ex Machina im Neuland. Millionen, ach was, Milliarden von Menschen, hatten plötzlich stundenlang keine Möglichkeit ihren Hass und ihre Kleingeistigkeit zu kanalisieren, mussten ganz old fashioned Ihre Katze oder ihre Theken-Nachbarn damit behelligen. Ging es euch nicht auch so Freunde, dass ihr kurz darüber nachdenken musstet, was für eine Welt das ohne besagte Kanäle im Internet sein könnte? Eine Welt, in der nicht jede noch so unbedeutende und uninteressante Stimme die Möglichkeit hätte, sich mit ihren unreflektierten und absolut belanglosen Postulierungen an den Rest der Menschheit zu wenden? Eine Welt, deren öffentliche Wahrnehmung nicht durch eine uns völlig unbekannte Gruppe von Programmierern und dubiosen Wirtschaftsstrategen aus dem Silicon Valley gelenkt wird? Eine Welt, in der nicht mehr jeder Einzelne seine Engstirnigkeit und seinen Hass unzähligen anderen Mensdhen ungefragt vor die Füße kotzen und aufbürden darf.

Vor recht genau 30 Jahren, anno 1991, ging die allererste Internetseite im damals noch sehr sehr jungen Internet online. Was sich seither alles mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit entwickelt hat, muss ich euch nicht erzählen, das kennt ihr alles schon. Smartphones haben den Großteil unserer Aufmerksamkeit, wie diese seltsamen Gehirn-Käfer aus Star Trek 2, weitestgehend assimiliert und absorbiert, Algorithmen lenken landauf und landab was wir sehen, hören, fühlen und meinen und in unseren Wohnzimmern stehen labernde Blechdosen herum. Manches von diesen Kram ist wirklich knorke, teilweise sind die Entwicklungen äußerst nützlich.

Vielleicht ist es aber auch an der Zeit einmal zu fragen, was davon es eben nicht ist – was davon ein schädlicher Rohrkrepierer wurde. Ich lehne mich jetzt einfach einmal weit aus dem Fenster und sage: Die vermeintlich sozialen Netzwerke sind wie Mycele eines Schädlings tief in jede Schicht unserer Gesellschaft hinein gewachsen und bewirken dort viel Ungutes, weitaus mehr als wir noch länger hinnehmen sollten. Macht, Einfluss und Reichweite dieser Netzwerke und die völlig intransparenten Mechanismen dahinter, sind eine Gefahr für unser Zusammenleben, für unsere Entwicklungen als Gesellschaft, für unsere Demokratie geworden. Möglicherweise ist der Zeitpunkt gekommen, sich global Seite an Seite aufzustellen und mit erhobener Hand zu sagen: Stopp, bis hierher und nicht weiter.

Freunde, ich bin mir der Ironie durchaus bewusst, diesen Artikel über Facebook, Instagram, Twitter und Co zu teilen, diese Schizophrenie ist Teil des Problems. Wer sich aus der Abhängigkeit dieser Netzwerke lösen möchte, nimmt erst einmal schmerzhafte Nachteile für sich selbst in Kauf. Als Medium würden wir einen erklecklichen Teil unserer Reichweite einbüßen, wer WhatsApp von seinem Smartphone schmeißt, erreicht plötzlich auf die gewohnt einfache Art und Weise einen Großteil seiner Seilschaft nur noch unter Schwierigkeiten. Das ist auch der Grund, wieso jeder Skandal, jedes Datenleck in den vergangenen Jahren nur zu einem geheuchelten Aufschrei führte und im Endeffekt nichts, aber auch gar nichts geändert hat.

Wenn das Ding aber mit einem Schlag offline ginge und wir alle gemeinsam und kollektiv auf kalten Entzug gesetzt würden, dann hätten wir eine echte Chance diesen potentiellen Irrweg im Neuland endlich zu verlassen. Davon würde die Welt übrigens nicht untergehen, Informationsflüsse würden sich auf andere Art und Weise ihren Weg durchs Netz bahnen, vielleicht aber auf bessere Art und Weise als bisher. Wie sich das anfühlen könnte, haben wir am Montag für sechs intensive Stunden erlebt – die Krake einmal ohnmächtig und mit schlaffen Tentakeln auf dem Boden liegen zu sehen, hat mir persönlich außerordentlich gut getan und gefallen.

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