Vor fünf Jahren kletterte Sasho in Bruchsal auf einen Güterwagen, wurde von einem Lichtbogen mit 15.000 Volt getroffen und überlebte wie durch ein Wunder. Erblindet und von vielen im Stich gelassen kämpfte er sich zurück ins Leben.
An die Nacht, die Sashos Leben für immer verändert hat, kann er sich im Grunde überhaupt nicht erinnern. Alles, was er noch weiß von diesem kalten Herbstabend, einem Mittwoch Ende Oktober 2019, ist, dass er mit einem Freund zusammen vom Haus der Begegnung zur Bahnstation Tunnelstraße gelaufen ist, um dort auf der Bank der Haltestelle eine Zigarette zu rauchen. Was danach passierte, hat er sich Stück für Stück rekonstruieren müssen.. über Erzählungen des damaligen Freundes, über die Berichte seiner Familie, der Rettungskräfte und Augenzeugen. Diese Geschichte, die den größten Einschnitt in Sashos Leben markiert, hat er zwar selbst erlebt, kennt sie jedoch im Grunde nur als abstrakte Summe der Wahrnehmung anderer.
So wie es sich darstellt, hielt an diesem Abend ein Güterzug auf der Bahnstrecke durch Bruchsal, einer der Waggons unmittelbar vor der Bank, auf der die beiden Jugendlichen – Sasho war damals gerade 16 Jahre alt – gemeinsam an ihren Zigaretten zogen. Warum sie auf die fatale Idee gekommen sind, den Wagen zu besteigen, das ist ihm bis heute nicht ganz klar. In jedem Fall kletterte Sasho zuerst die an den Wagen geschweißte Leiter hinauf, sein Freund ihm hinterher. Je näher sie dem Wagendach kamen, desto mulmiger wurde es seinem Begleiter. Er zupfte Sasho am Hosenbein, forderte ihn auf, kehrt zu machen. Doch Sasho schüttelte ihn ab, kletterte weiter, obwohl – und das ist das größte Mysterium an dieser Geschichte – er eigentlich genau wusste, welche Gefahr von den über seinem Kopf verlaufenden Oberleitungen ausging. “Ich kannte die Warnungen, habe auf Instagram gesehen, dass Menschen, die mit dem Strom in Kontakt kamen, regelrecht in Flammen aufgegangen sind”, erzählt er nüchtern und gefasst, während wir unser Interview nur wenige Metern von der Stelle entfernt führen, an der sich all das in diesem verhängnisvollen Herbst 2019 ereignet hat. Wie konntest du weiter klettern, obwohl du wusstest, was passieren kann, will ich von ihm wissen. Er hat keine Antwort auf diese Frage, hat sie sich selbst schon so unzählige Male gestellt. Ein Rätsel, dass er auch heute, fünf Jahre später, noch nicht lösen konnte.
Was dann kam, war gleichermaßen grausam, wenngleich aber unterm Strich nur elementare Physik. Als Sasho der Hochspannungsleitung näher kommt, springt der Strom mit seinen über 1000 Ampere und einer Stärke rund 15.000 Volt auf ihn über, bahnt sich seinen Weg durch Sashos Körper und richte dabei riesige, teilweise irreparable Schäden an. Brennend fällt der sechzehnjährige Junge zurück auf den Bahnsteig..blutend, verkohlt, gebrochen. Sein Freund sprintet los, gibt seiner Familie Bescheid. Als erstes treffen Sashos Vater und seine Schwester an der Unglücksstelle ein. Als beide den kaum noch zu erkennenden Körper des Sohnes, des Bruders sehen, können sie es kaum fassen – Sashos Schwester verliert sofort das Bewusstsein, zu viel ist der Anblick des verbrannten Bündels auf dem Boden.
Zwei Wochen sollten von diesem Moment an vergehen, bis Sasho das erste Mal wieder zu sich kommt. Zwei Wochen, in denen sein Körper im tiefen Koma irgendwo auf dem steilen Tritt zwischen Leben und Tod wandelt. Mehrfach hört sein Herz auf zu schlagen, jedes Mal kämpft sich Sasho zurück. Seine Mutter weicht in dieser Zeit nicht einmal vom Bett ihres Sohnes, redet mit ihm, betet ohne Unterlass. Die Ärzte machen ihr kaum Hoffnung, dass sie jemals wieder mit ihrem Sohn sprechen wird. Dass Sasho überhaupt noch lebt, grenzt zu diesem Zeitpunkt im Grunde an ein Wunder. So sitzt sie an seinem Bett, redet, hält seine Hand und weint. Als Sasho nach zwei Wochen aus dem Koma erwacht, empfängt ihn tiefschwarze Dunkelheit. “Ich wusste nicht wo ich bin, es war alles dunkel. Ich habe nach meinem Handy getastet um die Taschenlampe anzumachen, doch da war nichts” erzählt er und seine Augen schauen dabei blicklos in das Gleisbett vor ihm.
Anfangs hatte er noch Hoffnung, dass sein Augenlicht wiederkehren könnte. Vielleicht wenn das Trauma überwunden ist, stellten die Ärzte in der Klinik vage in Aussicht. Doch der Termin beim Spezialisten brachte die Gewissheit. Sashos Sehnerv war irreparabel beschädigt, kein Tröpfchen Blut versorgte die im Grunde intakten Augen noch. “Das Gerät funktioniert noch, das Kabel dorthin nicht mehr“, bringt er es nüchtern auf den Punkt. Nach und nach wird ihm das ganze Ausmaß seiner Verletzung klar, die Zäsur, die der Unfall für sein Leben bedeutet. Die bangen Fragen ploppen in der nun nicht mehr enden wollenden Nacht, in die sein Geist nun gehüllt war, in aller Klarheit auf: Wie soll es weitergehen, was soll aus mir werden, wie soll ich mich zurechtfinden? Als seine Familie vor ihm am Krankenbett steht und er sie nicht sehen kann, bricht diese Realität das erste Mal über ihn mit voller Wucht herein und das erste Mal fließen die Tränen aus den ins Nichts blickenden Augen. “Erst als sie meine Hände gehalten haben, konnte ich wieder aufhören, wusste aber gleichzeitig auch, dass es weitergehen muss“, erzählt Sasho und fängt von diesem Zeitpunkt an zu kämpfen.
Obwohl er sich anfangs kaum noch bewegen kann, begibt er sich in die Rehabilitation, erobert mit eisernem Willen die Kontrolle über seinen Körper und in der Folge seine uneingeschränkte Mobilität zurück. Sasho besucht eine Blindenschule in Ilvesheim, ein Mobilitätstrainer erklärt ihm dort, wie er sich künftig mit einem Blindenstock zurechtfinden kann, zeigt ihm alle wichtigen Techniken. Zu Hause, wo er jeden Winkel der Wohnung kennt, gelingt ihm das auf Anhieb, schwieriger ist es in der Welt außerhalb des elterlichen Heims. “Ich wohne seit 14 Jahren in Bruchsal, kenne hier alle Ecken, jeden Winkel, ich wusste, dass ich das schaffe“, erzählt er und lernt seine nun in Dunkelheit getauchte Welt allmählich zurück. Mit dem Stock ertastet er Gehsteige und Hauswände, merkt sich Lücken und Abstände, um die Straßen zu erkennen, speichert alles in einer zu Beginn komplett leeren Karte in seinem Kopf ab, füllt diese jeden Tag mit etwas mehr Information.
Wenn er draußen unterwegs ist, ist meistens jemand bei ihm. Oft seine Mutter, die ihm tagtäglich hilft, wo sie nur kann. Den Kontakt zum Rest der Welt hält Sasho aber auch mit dem Smartphone, das er mit den eingebauten Bedienungshilfen für Blinde genauso schnell und zielsicher bedient wie zuvor. Es ist wirklich beeindruckend, ihm dabei zuzusehen, das gesprochene Feedback des Gerätes ist auf eine derart hohe Geschwindigkeit eingestellt, dass man kaum eine Silbe davon versteht. Doch Sasho wischt über das Smartphone, lauscht dem Audio-Feedback und bedient jede Funktion zielsicher, schnell und präzise. Gerne würde er diese Fähigkeiten auch in einem echten Beruf einsetzen. Vor dem Unfall war er gerade frisch an die Käthe-Kollwitz in Bruchsal gewechselt, sein Ziel: Eine Ausbildung zum Bürokaufmann. In den letzten Monaten hat er viele Bewerbungen geschrieben, eine Zusage lässt bislang aber noch auf sich warten und das obwohl eigentlich gerade im öffentlichen Bereich der Inklusionsauftrag klar formuliert ist.
Doch Sasho ist nicht untätig, arbeitet derzeit an einem Podcast-Format, mit dem schwarzhumorigen Titel: “Der blinden König”. Bald soll es mit der ersten Folge losgehen, zeitgleich wird ein entsprechendes Format auf YouTube ausgespielt. Beim Erstellen des Contents hilft ihm seine Freundin und das ist die wunderbare und schöne Seite dieser Geschichte. Sie hat Sasho auf der Blindenschule in Ilvesheim kennengelernt, die beiden verliebten sich – im wahrsten Sinne des Wortes blind ineinander – wenn man das Wortspiel erlauben möge. Zwischen den beiden hat es derart gefunkt, dass sie beschlossen haben, ihren Weg gemeinsam zu gehen. In einigen Monaten wird Sasho das erste Mal Vater!
Um jedem Missverständnis vorzubeugen, auch wenn Sasho etwas erlebt hat, dass so vielen von uns dauerhaft den Boden unter den Füßen weggezogen hätte… aufgegeben hat er niemals, zu keinem Zeitpunkt, es noch nicht einmal in Erwägung gezogen. “Mein altes Leben war an diesem Oktobertag 2019 vorbei, es juckt mich nicht mehr, ich schaue jetzt nur noch nach vorne“, sagt er selbstsicher und meint es auch genau so. Was er anderen Jugendlichen gerne mit auf den Weg geben würde, damit sie nicht den gleichen Fehler begehen, wie er an diesem verhängnisvollen Abend, möchte ich zum Schluss noch von ihm wissen?
Audiothek – Der Beitrag „…und dann die Dunkelheit“
“Zwei Dinge“, antwortet Sasho. “Einmal, schau dir deinen Freundeskreis genau an. Sag mir wer deine Freunde sind und ich sage dir wer du bist. Wenn deine Freunde dauernd Mist bauen, wirst du irgendwann auch Mist bauen, also wähle deine Freunde klug.” Diese Lektion hat Sasho hart erlernen müssen, von seinen früheren Freunden haben sich die meisten abgewendet, nur einer hat ihm auch nach dem Unfall die Treue gehalten. “Das hat weh getan, manche kannte ich schon seit dem Kindergarten”, erzählt Sasho traurig. Ein Vorwurf soll das nicht sein, Sasho hat diesen fatalen Fehler selbst begangen, das weiß er genau. Einen Fehler, den er am Ende teuer bezahlt hat und den er gelernt hat, als Teil seiner Biografie zu akzeptieren.
Und der andere Punkt? “Wenn du im Begriff bist etwas dummes zu tun, wäge die Folgen lieber einmal mehr als zu wenig ab.” hält Sasho fest, denn “Das Leben kann verdammt kurz sein”.
Die Natur des Menschen ist es, dass er Fehler macht ! In diesem Fall mit krassen Folgen ! Respekt Für diese Haltung und den Willen ….
Sasho bewunderswert,wie du nach so einem Unfall nach“ vorne blickst“!
Ich wünsche dir und deiner kleinen Familie alles Gute!
Deine Geschichte hat mich sehr berührt.
Ein Sprichwort sagt,“in der Not gehen tausend Freunde auf ein Lot“.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen sehr einfühlsamen Artikel. Viele Mitmenschen haben das Schicksal des jungen Mannes aus den Augen verloren. Und ja, bei der Auswahl seiner Freunde sollte man ein besonderes Augenmerk legen getreu dem Motto: Freunde in der Not gehen 1000 auf ein Lot !
Super Artikel ! Weiter so !