Ums Verrecken aufs Gymnasium

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Wenn der Ehrgeiz der Eltern Gift für die Kinderseele ist

Ein Appell an alle Mit-Eltern von Tommy Gerstner

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Dieser Artikel hat Menschen überall im Kraichgau in der Vergangenheit beschäftigt und interessiert. Wir holen ihn daher nun erneut nach oben, da Jahr für Jahr wieder viele Eltern vor der Wahl stehen, an welcher Schule Sie ihre Kinder ab Herbst anmelden wollen.


Es ist wieder soweit. Unzählige Kinder im Kraichgau haben im Verdauungstrakt der Grundschulen den Enddarm erreicht und stehen kurz davor mit Pomp und Gloria in die weiterführenden Schulen hinaus geschossen zu werden. Ab auf die weite Straße des Lebens, meine Kleinen! Dabei handelt es sich an dieser Stelle im Grunde erst einmal um eine simple Kreuzung. Aus einer Richtung kommt man,  in eine von mehreren, weiteren Richtungen kann man abbiegen. Da gäbe es vor allem das Gymnasium, die Realschule und die Hauptschule…pardon Werkrealschule (klingt nicht so schlimm-dumm) und eine Handvoll weiterer Optionen wie z.B. die Gemeinschaftsschule oder die Waldorfschule.

Im Grunde eigentlich eine ganz simple Angelegenheit, die in früheren Zeiten von den Klassenlehrern entschieden wurde. Das machte auch gewissermaßen Sinn, denn es waren ja schließlich diese Herrschaften die die Entwicklung des Kindes über Jahre hinweg aktiv verfolgen konnten. Heutzutage überlässt man diese Entscheidung im Wesentlichen den Eltern, und da für diesen Job keine Staatsexamen abgelegt werden müssen, fallen hier mitunter Entscheidungen die vermutlich in einer schmerzhaften hohen Zahl der Fälle nicht gerade objektiv begründet sind.

Nur Genies unter uns

Schließlich ist uns allen klar: Es gibt im Kraichgau ausschließlich hochbegabte Kinder! Normal oder gar durchschnittlich intelligenten Nachwuchs findet man in unseren Breitengraden vergeblich, zu 99% wachsen hier kleine Genies in die Höhe. Und was ist der einzig gangbare Weg für ein Genie? Richtig! Gymnasium – Universität – Nobelpreis. Dieser Trend steht in Zahlen ausgedrückt sehr eindeutig da: Mehr als die Hälfte aller Eltern melden ihr Kind am Ende der Grundschule auf dem Gymnasium an, 25 % der Erziehungsberechtigten machen dies übrigens gegen die ausdrückliche Empfehlungen der Lehrerschaft. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Abiturienten deshalb im Land mehr als verdoppelt und all dies führt zu einer bitteren Erkenntnis, die der baden-württembergische Philologenverband nach einer Umfrage an über 100 Gymnasien zieht: Immer mehr Schüler sind mit dem Leistungsniveau auf Gymnasien völlig überfordert.

Das Problem hört auf Mama oder Papa

Die Verursacher dieser Misere hören nicht auf Namen wie Kevin, Justin, Chantal oder Sarah, sondern tendenziell eher auf die Namen Mama und Papa. Naht das Ende der vierten Klasse, stellt sich für jene beiden im Grunde nur die Frage: Ist mein Kind dumm oder geht es aufs Gymnasium? Ja, man möchte natürlich vor den anderen Eltern nicht schlecht da stehen, Oma und Opa nicht erklären müssen, warum der eigene Nachwuchs es “nur” auf die Realschule geschafft hat….

Alle Eltern die ihr Kind just auf dem Gymnasium angemeldet haben, sollten sich ganz offen und ehrlich die Frage stellen, warum sie das tun. Haben sie ein ehrgeiziges Kind, das besonders leicht lernt und neue Inhalte schnell versteht und verarbeitet, ist der Gang aufs Gymnasium wahrscheinlich eine gute Idee. Ist der Nachwuchs aber noch jung, wurde vielleicht früh eingeschult, spielt noch wahnsinnig gern und sieht die Schule eher als eine Art notwendiges Übel an, sollten vielleicht andere Überlegungen angestellt werden. Jedes Kind lernt unterschiedlich schnell, entwickelt sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und der intellektuelle Takeoff kommt beim einen früher, beim anderen später.

Freier Fall im Gymi

Der alte Tommy war seinerzeit in der Eppinger Grundschule ein recht guter Schüler. Gelernt habe ich nie sonderlich gern, dennoch lag der Notendurchschnitt bei zwei bis drei. Nicht mega gut, aber auch nicht mega schlecht. Allerdings war ich auch ein echter Kasper, hatte nachmittags keinerlei Lust aufs Lernen und wollte lieber mit meiner Hündin durch die Gassen und über die Felder trollen. In der Grundschule habe ich mich immer pudelwohl gefühlt, doch als ich dann aufs Eppinger Gymnasium wechseln musste, begann der freie Fall. Innerhalb kürzester Zeit plumpste mein Notenspiegel von 2 auf 4, oder wohl eher 5. Die Deutsch- und Mathe-Bücher mit Umi dem gemütlichen Bären, wurden ersetzt durch das blutrot-karierte Lambacher Schweizer Lehrbuch der Mathematik, einer Art Satansbibel der Zahlen-Fetischisten. Das Tempo zog rasend schnell an und das Niveau erreichte innerhalb von wenigen Wochen ungeahnte Ausmaße. Ich schleppte mich nur noch mit Bauchweh in die Schule und mit schlechten Noten im Gepäck und mit noch mehr Bauchweh wieder nach Hause… Irgendwann zogen meine Eltern dann gnädigerweise die Reißleine und ich wechselte auf eine Realschule. Hier machte das Lernen plötzlich wieder Spaß und innerhalb von Wochen stabilisierte sich mein Notenspiegel auf einem guten Niveau. Um sie nicht allzu sehr zu langweilen kürze ich die Geschichte nun ab. Nach dem Ende der Realschule wechselte ich ohne Probleme zurück aufs Gymnasium, legte ein halbwegs passables Abitur ab und begann sogar mit einem Studium. (Politologie, saublöde Idee, abgebrochen nach dem vierten Semester). Warum ich nach der Realschule auch auf dem Gymnasium bestehen konnte? Ganz einfach: Weil ich kein kleines Kind mehr war, meine jungen Jahre genossen hatte und alle Spiele gespielt hatte, die es zu spielen gab. Irgendwann wird man reifer und wechselt auf ganz natürliche Weise das Leistungsniveau. Wenn ich mir diese Mutmaßung erlauben darf: Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Schritt noch nicht am Ende der Grundschule an der Reihe ist. Das ist nur meine Geschichte, es muss nicht die Ihre sein, dennoch war es mir wichtig sie Ihnen heute zu erzählen!

Der Druck steigt

Was ich mir erlaube, Ihnen mit auf den Weg zu geben: Liebe Eltern, spannt eure Kinder nicht vor den Karren des eigenen Ehrgeizes und dem gesellschaftlichen Druck der beständigen Selbstoptimierung und des Leistungswahnsinns. Lasst eure Kinder Kinder sein, solange es nur irgendwie geht. Die harte grausame Realität des Daseins als Erwachsener, holt sie noch früh genug ein.  Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Schaut euch eure Kids genau an und fragt euch einfach ganz unvoreingenommen, was wäre das beste für Sie?

Vielleicht ist es ja das Gymnasium…. vielleicht kommt ihr Sohn oder ihre Tochter auf dieser Schule bestens zurecht. Vielleicht ist aber auch die Gemeinschaftsschule, die Realschule oder die Werkrealschule der Ort an dem sich diese junge Persönlichkeit am besten entfalten kann…. Vielleicht kann man den Berg langsam und gemächlich besteigen, anstatt gleich senkrecht an der Eiger Nordwand im eisigen Schneeregen nach oben zu kraxeln? Wichtig ist nicht was am Ende des Weges kommt, sondern wie der Weg selbst aussieht!

Vielleicht ja ganz was anderes?

Sehen Sie es doch mal so: Möglicherweise ist Ihr Kind ein super-begabter Handwerker, vermag mit seinen Händen Großes anzustellen und kann sich später bei dem schon heute akuten Fachkräftemangel Kunden und Preise selbst aussuchen… Wäre das denn eine so schlechte Option? Vielleicht würde sich Ihr Kind an einer Universität überhaupt nicht wohlfühlen, der akademische Lehrbetrieb ist nicht für jeden etwas, das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung sagen. Eierköpfe bis zum Horizont…..gibt schöneres!

Liebe Mit-Eltern, macht euch bewusst in welcher Art von Gesellschaft wir heute leben. Es geht nur um Leistung, um Kaufkraft, um Wirtschaftskraft – es geht dagegen so gut wie gar nicht mehr um abstrakte Werte wie Lebensqualität oder gar Individualität. Die Politik lässt uns Schätze angedeihen wie die “Respekt-Rente”, die jedoch lediglich den Respekt vor der Arbeit und nicht vor der Lebensleistung meint. Sie peitscht unsere Kinder mittlerweile in acht, statt wie bisher in neun Jahren durchs Gymnasium um möglichst schnell potente Steuerzahler auf den Markt zu spucken….und bestraft konsequent jene Menschen, die ihr Leisten und Wirken zugunsten von Mitmenschen einsetzen, anstatt zur Vermehrung des schnöden Mammons.

Hört auf Euer Herz

Die Entscheidungen vor der Sie als Eltern stehen, mag sicher bedeutsam sein. Sie ist aber definitiv nicht so bedeutsam, wie sie denken mögen. Aufs Gymnasium wechseln kann man später immer noch –  wenn es jetzt noch nicht an der Zeit ist, ist es eben jetzt noch nicht an der Zeit.

Auch wenn Schule eine verdammt verkopfte Sache ist….Befragen Sie auch ihr Herz und ihre untrüglichen Instinkte als Eltern – mit diesen Ratgebern können Sie am Ende nichts falsch machen.

Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute

Ihr Thomas Gerstner

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