Trotz ihrer bald 103 Jahre steht Erika Schmitt immer noch jeden Tag in ihrem Juweliergeschäft in der Bruchsaler Innenstadt. Durch ihre Schaufensterscheibe hat sie Generationen kommen und gehen gesehen und sich über all die Jahre ihre Grundsätze für ein zufriedenes und erfülltes Leben bewahrt.
Als sich die alte Glastür des Ladens in der Kaiserstraße Nummer 55 klickend hinter mir schließt, scheint ab diesem Augenblick die Zeit etwas langsamer zu verstreichen. Hier drin erinnert nichts an die Hektik und die Schnelligkeit unserer Gegenwart, in der alles nur noch um Aufmerksamkeit heischend bunter und schriller sein möchte. Es ist ein kleines Refugium, ein Ort der mich unweigerlich an das Nirgendhaus von Meister Hora in Michael Endes Meisterwerk “Momo” erinnert. Draußen vor dem Schaufenster treiben die Menschen schnellen Schrittes durch die regennasse Bruchsaler Fußgängerzone, hier drinnen hingegen teilt das Ticken unzähliger Uhren den gemächlichen Lauf des Nachmittags in Sekunden, Minuten und Stunden.. ganz wie bei Meister Hora.
Der kleine Laden wirkt wie aus der Zeit gefallen. Es gibt mehrere Ladentheken und Verkaufstische, die hier schon seit den 50er Jahren stehen, gebogen unter der Last der Jahre, verkleidet mit dunklem Holz, nach vorne hin geben Glasscheiben den Blick auf die Auslage frei. Kleine Ketten, Armbänder, Ringe, Ohrringe, Medaillons und viele weitere glänzende Kleinode liegen hier sorgfältig ausgebreitet. In den unzähligen hölzernen Schubladen dahinter verbergen sich den Aufschriften nach Trauringe, Schachteln, Tüten, Creolen, Stecker, Kettchen, Uhrenarmbänder, und Zigarettenetuis.
Behutsam wurde die Eleganz der Wirtschaftswunderjahre bewahrt und nur punktuell mit ein paar neueren Stilmitteln ergänzt. Der ganze Raum trägt eine unverkennbare weibliche Handschrift. In der Ecke steht ein gemütliches Sofa, voller weicher Kissen. Ornamentverzierte goldfarbene Vorhänge, Tischsets aus Filz, kleine Deko-Elemente überall. Auf dem Beistelltisch neben dem Sofa liegt ein Buch mit den “schönsten Geschichten zum Verlieben”. Aus den versteckten Lautsprechern rieselt bereits jetzt dezente Weihnachtsmusik vom Piano, das einschläfernde Summen der alten Neonröhren legt sich wie eine Basslinie darüber.
Dann kommt sie und es ist, als ob die Uhren noch ein klein wenig langsamer schlagen. Erika Schmitt, bedächtig im Schritt, gestützt von ihren Angehörigen – jedoch nur ein bisschen. Die Treppe hinab aus der Wohnung, dann hinter der Theke durch den Laden, den sie in den vergangenen 70 Jahren nahezu täglich durchschritten hat. Sie nimmt neben mir Platz und mustert mich mit ihren wasserhellen blauen Augen über die dicke Brille hinweg. Ich muss etwas lauter sprechen, damit sie mich versteht und diese Lautstärke kommt mir irgendwie ungehörig vor, denn alles in mir drängt danach, diese Frau mit dem größtmöglichen Respekt zu behandeln. Sie war schon hier, 60 Jahre bevor ich geboren wurde, hat Glück, Freude, Not und Armut eines Jahrhunderts, Aufstieg und Fall ganzer Nationen erlebt, den Krieg überstanden, geliebte Menschen kommen und gehen sehen. Es ist ein Alter und eine Lebensspanne, die nur die allerwenigsten von uns wirklich erfassen können.
Ich frage sie nach ihrer Jugend, frage nach den ersten Tagen dieses Lebens, das vor unglaublichen 102 Jahren begonnen hat. Zuerst winkt sie ab, wirft die faltigen Hände in die Luft.. “Das weiß ich alles nicht mehr”.. Aber natürlich weiß sie es noch und nach einem Moment des Insichgehens fängt sie an zu erzählen. Geboren wurde Erika Schmitt am 16 Dezember 1920, an jedem Tag als das bis dahin schwerste Erdbeben aller Zeiten in China hunderttausende Opfer forderte, die Republik Österreich wieder in den Völkerbund aufgenommen und im Radio das erste Mal ein Orchesterstück übertragen wurde.
Zu Hause war Erika damals in Zell-Weierbach, einem Stadtteil von Offenburg in der Ortenau. Ihr Vater stand im Dienst der Deutschen Reichsbahn, ihre Mutter war Hausfrau. Am Ende des vierten Schuljahres in der Volksschule zog Erika zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Bruchsal. Grund waren die Großeltern in Untergrombach, die Familie rückte wieder näher zusammen. So wohnten sie in einem Haus in der Prinz-Wilhelm-Straße unweit des Bahnhofs, wo Erikas Vater wieder Arbeit fand. Es waren die frühen 30er Jahre, der Fall der Weimarer Republik zeichnet sich ab und mit ihm die Machtergreifung der Nationalsozialisten. An diese düstere Zeit kann sich Erika noch gut erinnern, hat miterlebt, wie die jüdischen Mitbewohner aus der Stadt vertrieben wurden, wie immer mehr von ihnen in Güterzügen fortgebracht wurden.
Nach der Schule absolvierte Erika eine zweijährige Ausbildung an der Handelsschule, danach lernte sie Bürokauffrau in der Papierhandlung Hettmannsperger. Während der Kriegsjahre wurde sie als Stabshelferin für die Wehrmacht eingezogen, zuerst im Wehrmeldeamt in Bruchsal, später im von Deutschland besetzten Norwegen. Dort verbrachte sie die letzten Kriegsmonate, abseits der Heimat. Dennoch kann es als Glücksfall angesehen werden, dass Erika den 1. März 1945 nicht in der Stadt war. An diesem Tag zerstörte ein groß angelegter Luftangriff Bruchsal nahezu vollständig. Sie erinnert sich noch gut an die Rückkehr, an das Irren durch die Trümmer ihrer Heimatstadt. Sie erinnert sich noch lebhaft an eine Frau, die mit einem Leiterwagen durch die ausgebrannten Straßen und Ruinen zog und sie fragte: Wo willst du hin, Kind? -Nach Hause- sagte Erika, doch das gab es nicht mehr.
Doch das Leben musste weitergehen. Es gab nur eine Blickrichtung – nach vorne, nach vorne, denn wer zurückblickte, sah nur Schmerz und Zerstörung. Die Familie fand Unterschlupf, mietete später eine Wohnung. Der Wiederaufbau begann, ihm folgten die Wirtschaftswunderjahre in der noch jungen Bundesrepublik. Erika lernte bei einem Besuch in einem Juweliergeschäft in der Wörthstraße ihren Wilhelm kennen und heiratete ihn kurze Zeit später. Befähigt durch ihre Ausbildung übernahm sie die Buchhaltung und die Organisation des florierenden Geschäftes, bildete unzählige Verkäuferinnen und Verkäufer in den kommenden Jahren aus. Teilweise bis zu zehn waren es gleichzeitig, alle schlossen ausnahmslos die Ausbildung mit einer glatten Eins ab. In der Handelsschule galt fortan das Dogma: Verkäuferinnen von Schmitt müssen gar nicht erst in die Prüfung, die sind bereits bestens auf alles vorbereitet. Eine von Erikas Auszubildenden arbeitet übrigens heute immer noch im Familienbetrieb, hat kürzlich ihr 50-jähriges Betriebsjubiläum gefeiert. Wo gibt es sowas heute denn noch?
Ende der 50er Jahre zog “Schmitt Uhren und Schmuck” schließlich von der Wörthstraße in die Kaiserstraße, wo der kleine Laden bis zum heutigen Tag zu finden ist. Die 50er und die 60er waren großartige Jahre, die Menschen statteten sich nach den Verlusten im Krieg komplett neu aus. Besteck, Küchenuhren, Wecker und vieles mehr. Alles gefragte Waren und nicht zuletzt boomte auch der Umsatz mit Verlobungs- und Eheringen. Jeder wollte die Not hinter sich lassen, etwas lebensbejahendes in Angriff nehmen. Ganze Haushalte wurden neu ausgestattet, es wurde allerorten geheiratet und Familien gegründet.
Ja, es waren gute Jahre, schlechte hatten wir eigentlich nie, erinnert sich Erika zurück. Bis auf das Jahr 1982, als ihr Mann Wilhelm viel zu früh starb. Doch alleine war Erika nie, sie mochte die Menschen und die Menschen mochten sie. Vermutlich ist genau das, das Geheimnis ihres langen Lebens und auch das Geheimnis des geschäftlichen Erfolges ihres Ladens. “Du musst anständig, gut und großzügig sein“, sagt Erika und zählt damit drei Grundwerte auf, die heutzutage Seltenheitswert haben.
Kinder hat Erika keine, wohl aber Familie, insbesondere durch ihren Bruder Erich. Aus dessen Ehe mit Renate gingen die drei Kinder Andrea, Frank und Matthias hervor. Matthias Frau Petra, die Nichte Erikas, hat bereits vor Jahrzehnten angefangen, im Familiengeschäft zu arbeiten. Heute hilft auch hin und wieder ihre Tochter Amelie, insbesondere während der Semesterferien, mit aus. An ihrer Seite steht zudem noch treu Daniela Greulich-Schuster. Eine Geschäftsübergabe an die nächste Generation gab es wohlgemerkt aber noch nicht, nach wie vor ist Erika trotz ihrer bald 103 Jahren die Seniorchefin und das ohne wenn und aber. “Ich habe sie alle unter meiner Fuchtel“, sagt sie scherzhaft streng und die insgesamt vier Frauen, die mir gegenüber sitzen, lachen alle herzlich und so laut, dass die Kundschaft im Laden sich nach ihnen umdreht.
Kundschaft gibt es überraschend viel, sehr viel mehr als ich mir eingedenk der Konkurrenz durch große Filialketten und den Internethandel hätte vorstellen können. Tatsächlich scheint das Geschäftskonzept von Uhren Schmitt nach wie vor aufzugehen, gegen jeden Trend und gegen die Zeit. Das ist beeindruckend. Sogar die Klassiker von damals sind heute noch oder sogar wieder gefragt. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass heute noch analoge Wecker verkauft werden, hätte ich ungläubig mit dem Kopf geschüttelt. Hier in der Kaiserstraße 55 gehen wohl Dutzende davon pro Monat über den Ladentisch.
Vielleicht ist es gerade die Beständigkeit, das Vertraute und vor allem das respektvolle Miteinander, das Kunden immer wieder den Weg zurück in den alten Laden finden lässt. Niemals Druck aufbauen, den Kunden niemals zum Verkauf drängen. Zeit nehmen, zuhören, Gespräche führen. Diese Grundsätze zählt Erika auf und die anwesenden Damen nicken mit ernsten Blick.
Wie lange diese liebenswerte Zeitblase im Herzen Bruchsals noch intakt bleiben kann, das lässt sich freilich schwer sagen. Wer 103 Jahre alt ist, der weiß dass jeder weitere Tag eine Zugabe auf der Bühne des Lebens ist, kurz bevor der Vorhang fällt. Was sie sich noch für die verbleibende Zeit wünscht, möchte ich von Erika wissen. Doch anstatt tiefer philosophischer Ausschweifungen, reagiert die rüstige 103-Jährige nur nonchalant mit der guten alten Brusler Schnauz: “Nix, mein Maß isch voll”. Diesmal kann ich auch nicht anders und muss schallend lachen. Was für eine Ehre und was für ein Privileg, diese Frau noch kennengelernt haben zu dürfen. Hätte ich einen Hut auf gehabt, so hätte ich ihn in diesem Moment vor ihr gezogen.
Einfach nur Respekt!
Vielen Dank für das tolle Portrait einer tollen Frau. Solche Menschen sind leider sehr selten.
Tolles Alter ich finde die Dame süß ihr Lächeln und der Gesichtsausdruck sehr sympathisch 👍
Habe Frau Schmitt vor Jahren ,sie war schon hoch in den Achtzigern, bei einer Buswallfahrt kennengelernt.Den letzten Abend hatte sie die „Spendierhosen“ an. Auf ihr Geschäft angesprochen,ob sie nicht aufhören wolle,meinte sie, „das kann ich meinen Mitarbeitern nicht antun,die sind auch schon älter und kommen nirgendwo noch unter“.
Was für ein Vorbild: Sei anständig gut und grosszügig.
Frau Schmitt lebt ihren Glauben!