Sehende Hände

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Ein Besuch auf dem Östringer Schindelberg bei Osteopath Michael Alten

Ein Erfahrungsbericht von Stephan Gilliar

Nur mit Unterwäsche bekleidet stehe ich in einem hellen, warmen Raum in einem Seitenflügel des ehemaligen Kurhauses auf dem Schindelberg bei Östringen. Es ist ruhig hier, absolut ruhig. Durch das große Fenster fällt mein Blick auf eine Streuobstwiese, ein paar Vögel picken gerade Körner aus einem Futterspender. Ich fühle mich in diesem Moment tatsächlich absolut ausgeglichen, die Atmosphäre dieses Ortes wirkt irgendwie beruhigend. Vielleicht sind es die in Pastelltönen gestrichenen Wände, die ländliche Idylle, die mollige warme Heizung oder alles zusammen…Wahrscheinlich liegt es aber eher an Michael Alten, der wie ein Mensch gewordener Ruhepol hinter mir steht und mit der ihm völlig eigenen, unaufgeregten Gelassenheit gerade mit seiner Behandlung beginnt.

Ruhig tastet er mit seinen Händen meinen Nacken, die Schultern, das Becken und den Rücken ab. Er fordert mich auf ruhig zu atmen und auf seinen Zuruf hin die Augen zu schließen. Mit den Fingern gleitet er an meiner Wirbelsäule hinunter und als er “jetzt” sagt, sinken meine Lider bereitwillig. Die Sekundenbruchteile die nun folgen sind für Michael Alten entscheidend. Dieser kurze Moment, in dem mein Hirn durch die fehlende, visuelle Orientierung auf die anderen, feinen und subtilen Sinne umschaltet, vermitteln ihm einen Eindruck wie mein Körper sich selbst justiert und reguliert.

Michael Alten ist Osteopath. Ein Wort das man vielleicht schon einmal gehört hat, es aber möglicherweise nicht richtig zuordnen kann. Versuchen wir es. Wenn man das Wesen der Osteopathie in wenigen Worten zusammenfassen müsste, dann könnte man wohl sagen: Alles ist mit allem verbunden. Die Lehre der Osteopathie geht davon aus, dass unser Körper eine einzige komplexe Struktur ist, in der nichts isoliert oder unabhängig voneinander funktioniert, sondern vielmehr mit jedem anderen Teil in Zusammenhang steht. Die Verbindungen innerhalb dieses Systems werden über das Bindegewebe hergestellt, die sogenannten Faszien. Diese Faszien verbinden auch Teile des Körpers, bei denen man auf den ersten Blick und rein gefühlsmäßig keinen Zusammenhang herstellen würde. Die Osteopathie sieht das anders. Ihr zufolge ist es durchaus möglich, dass Narben – beispielsweise nach einem operativen Eingriff – mechanische Spannungsfelder erzeugen, die problemlos in anderen Bereichen des Körpers Probleme erzeugen können, wie beispielsweise Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen.

Nicht immer ist dabei ein Eingriff von außen notwendig, tendenziell schreibt die Osteopathie dem Körper durchaus die Fähigkeit zur Selbstregulation zu. Nur wenn dieses System gestört, das Ungleichgewicht zu groß ist, kann mittels der Osteopathie geholfen werden. Das Ziel ist es, den Körper bei der Selbstregulierung zu unterstützen. Es geht also nicht um die Behandlung von Symptomen, sondern um eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die Beweglichkeit aller Bestandteile des komplexen Systems unseres Körpers zu ermöglichen um Energien oder auch Flüssigkeiten fließen und Spannungen abbauen zu lassen. Das mag vielleicht wunderlich anmuten, doch auch wenn auf einer Computerplatine eine kleine Verbindung unterbrochen ist, kann dies schließlich fundamentale Auswirkungen auf die Funktionalität des gesamten Systems haben.

Das unterscheidet die Osteopathie beispielsweise von der Physiotherapie, die in ihrer Wirkweise deutlich pragmatischer verfährt. Bei Schmerzen im Schultergelenk konzentriert sich die Behandlungen auch zumeist auf das Schultergelenk. Das muss keineswegs falsch sein, greift in gewissen Situationen aber vielleicht zu kurz. Nicht ohne Grund werden bei Osteopathen oft Menschen vorstellig, die einfach alles andere bereits erschöpfend ausprobiert haben. Dazu zähle ich mich übrigens auch, doch obwohl ich im Allgemeinen kein Skeptiker der Schulmedizin bin, wollte ich mich doch mit einer pauschalen OP-Empfehlung nach einem Röntgenbild und 5-minütiger Untersuchung meines zwickenden Knies nicht einfach zufrieden geben. Vielleicht gibt es ja noch andere Optionen.

Auch Michael Alten kennt beide Seiten dieser Medaille, war er doch selbst lange Jahre als reiner Physiotherapeut tätig. Jahrzehntelang praktizierte er in einer großen Praxis auf dem Östringer Kirchberg, behandelte mit einem großen Team zahlreiche Patientinnen und Patienten. Irgendwann wurde er durch einen Kollegen auf die Osteopathie aufmerksam, informierte sich und brannte fortan lichterloh für diese alternative Heilmethode. Mehrere Jahre und eine erkleckliche Summe Geld investierte er in seiner Ausbildung zum Osteopathen, arbeitete unter der Woche weiter als Physiotherapeut und verbrachte die Wochenenden mit der Weiterbildung.

Das wichtigste Werkzeug eines Osteopathen sind seine Hände. Es gilt sie zu schulen, die Fähigkeit der eigenen Perzeption Stück für Stück auszubauen und zu perfektionieren. Michael Alten erinnert sich noch gut an seine ersten Gehversuche und auch an die Wut und die Frustration. “Beim ersten Mal habe ich gar nichts gespürt, da war nichts” erzählt er “Ich dachte schon meine Hände wären ungeeignet, absolut nutzlos”. Aber dann kam dieser Moment der Erkenntnis, das erste Mal an dem er es doch spürte: Die sanften Bewegungen unter der Haut, Härte, Weichheit, Wärme, Kälte, Energie… Stück für Stück schulte er seine Sinne, wurde immer besser darin. Die Osteopathie fand Einzug in seine Arbeit als Physiotherapeut und ersetzte diese irgendwann mehr und mehr. Über Jahre hinweg reifte in ihm der Plan, die große Praxis in Östringen, die so viel Zeit und Einsatz – nicht zuletzt zu Lasten seiner Familie erforderte, aufzugeben und sich nur der Osteopathie zu widmen.

Vor gut zehn Jahren war es dann soweit, Michael Alten zog die Reißleine und beschloss sich selbst ganz neu zu erfinden. Weil seine Lieblingsserie im Fernsehen damals Forsthaus Falkenau war, sollte es genau ein solcher Wirkungsort sein, wie ihn Förster Martin Rombach jeden Tag genießen konnte. So stieß er durch einen Bekannten auf das alte Kurhaus auf dem Schindelberg, baute die dortige, ehemalige kleine Wohnungen zu zwei Behandlungsräumen aus und sagt seither von sich: “Hier bin ich absolut glücklich”. Nur eine Handvoll Patienten behandelt er hier jeden Tag, wenn er wollte könnten es viel mehr sein. Sein Terminkalender ist voll, nicht selten vergehen einige Wochen bis sich ein freies Zeitfenster für eine Behandlung findet.

Wie bei jeder alternativen Heilmethode, scheiden sich selbstredend auch an der Osteopathie die Geister. Kritisiert wird die mitunter dünne Studienlage und das Fehlen empirischer Wirknachweise für manche Teilaspekte, wie beispielsweise der Anregung der Selbstheilungskräfte. Auf die Frage empirischer Evidenzen, wie sie sich auch stets bei heilpraktischen oder anderen alternativmedizinischen Anwendungen stellt, soll in diesem Artikel jedoch nicht eingegangen werden. Es soll hier nicht um eine Bewertung gehen oder gar Behauptungen, die die unumstößliche Wirksamkeit osteopathischer Behandlungen postulieren. Nach einiger Recherche ließen sich diese wissenschaftlich jedenfalls nicht belegen, nahezu alle verfügbaren Studien zur Osteopathie verweisen einerseits auf Einschränkungen oder Unsicherheiten bei ihren Ergebnissen, andererseits ist die Osteopathie als Beruf in vielen Ländern bereits anerkannt. In den USA gibt es beispielsweise das Studium zum Dr. off Osteopathic. Ich kann nur sagen, dass ich persönlich aus der Osteopathie einen Nutzen ziehe. Ich kann nicht behaupten, dass nach einer Behandlung all meine Probleme der Vergangenheit angehören, aber ich glaube dennoch positive Effekte an mir beobachtet zu haben. Allein die Wertschätzung, die Aufmerksamkeit und das aufrichtige Interesse an meiner Symptomatik, die mir im Zuge der Anamnese und der Behandlung zuteil wurden, ist für mich völlig ausreichend der Osteopathie treu zu bleiben. Wahr ist auch: Man muss es sich leisten wollen und leisten können. Eine Stunde beim Osteopathen schlägt mit etwa 80 bis 150 Euro zu Buche, manche Krankenkassen übernehmen anteilig einen Teil der Kosten als Satzungsleistung. Es sind Kosten die sich auch ein Stück weit relativieren, bedenkt man dass ein Osteopath rund 100.000 Euro in seine 5-jährige Ausbildung investieren muss.

Neben Michael Alten gibt es natürlich noch andere Osteopathinnen und Osteopathen in der Region. Manche davon sind niedergelassene Ärzte, manche PhysiotherapeutInnen, manche HeilpraktikerInnen. Dazu gibt es auch noch verschiedene Teilbereiche der Osteopathie. Neben der klassischen parietalen, zum Beispiel noch die viszerale Osteopathie. All die zugrundeliegenden Methoden gehen zurück auf den amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still, der in einer Zeit als die klassische Medizin sich mitunter noch fragwürdiger Methoden wie der Schädelforschung, dem Aderlass oder der Laudanum-Therapie bediente, nach sanfteren Heilmethoden für seine Patienten umsah. Seine Idee der Wiederherstellung der Selbstheilungskräfte des Körpers, bildete die Grundlage der heutigen Osteopathie. Obwohl es zwischenzeitlich auch Vertreter der Osteopathie gibt, die die kraniosakrale Therapie als eigenständigen Teilbereich vom Rest entkoppelt haben, kann ein Osteopath im Grunde überhaupt erst dann wirklich osteopathisch arbeiten, wenn er alle Anteile berücksichtigt, also sowohl die viszerale, die parietale und die kraniosakrale Osteopathie, weiß Michael Alten genau. Das habe vor über 100 Jahren auch schon Andrew Taylor Still erkannt.

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