Nicht ohne mein Auto

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Rund um die Uhr Halbstundentakt auch auf dem Dorf? Die Kampfansage aus Stuttgart, auch Menschen auf dem Dorf zum Umstieg auf Bus und Bahn zu bewegen, dürfte eine schwere Geburt werden.

Eine persönliche Analyse von Stephan Gilliar

Als es mich in meiner Sturm und Drang Zeit von einem Radiosender zum nächsten trieb, bin ich innerhalb von wenigen Jahren unzählige Male umgezogen. Je nachdem, bei welcher Station ich damals gearbeitet habe, war mein Wohnort im kleinsten Fall eine mittlere Stadt, im besten Fall eine echte Metropole. Ein Auto habe ich in dieser Zeit nie besessen, wofür auch? In den Städten konntest du dich zu jeder beliebigen Uhrzeit an so ziemlich jede beliebige Straßenecke stellen und warst dir dennoch sicher, nie länger als eine Viertelstunde auf einen Bus oder eine Bahn warten zu müssen.

Heute, zurück im Kraichgau – meiner wiederentdeckten Heimat, ist das nicht mehr so. Ganz wie in meiner Jugendzeit in Eppingen gibt es auch heute noch Dörfer, in denen der Bus nur alle paar Jubeljahre hält, manchmal sogar nur dann, wenn man ihn vorher telefonisch gerufen hat. Deshalb ist es im ländlichen Kraichgau immer noch das höchste Ziel für einen frischgebackenen Volljährigen, schnellstmöglich den Führerschein zu machen um die Grenzen der eigenen kleinen Welt endlich wachsen zu lassen.

Klar, die Stadtbahn hat in unserer Region viel bewegt. Als ich damals Teenager war, drang sie immerhin bis Gölshausen vor… die restlichen 20 Kilometer von Eppingen mussten wir dann nur noch per Anhalter zurücklegen. Heute gibt es Stadtbahn-Haltestellen in vielen Kraichgau-Gemeinden, die in recht ordentlichem Takt angefahren werden. Wenn es nach Plänen des grünen Verkehrsministers Hermann geht, soll dieser Takt überall auf dem Land ausgebaut werden. Die Landesregierung hat jüngst eine sehr starke, sehr ambitionierte Aussage formuliert: Quasi rund um die Uhr sollen alle Orte im Land mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar sein, auf dem Land im halbstündigen Takt, in der Stadt im Viertelstundentakt. Zudem soll es für junge Menschen ein günstiges Ganzjahres-Ticket geben.

Ich ziehe vor diesem Vorstoß meinen Hut, ist es doch genau das ehrgeizige Ziel, das wir brauchen um die Verkehrswende, aber auch den dringend notwendigen Systemwechsel für unsere Umwelt zu erreichen. Machen wir uns doch ehrlich: Das allmächtige Auto, das in Baden-Württemberg im Grunde denselben Stellenwert erreicht, wie in Indien eine heilige Kuh, hat in seiner Entwicklung einen toten Punkt erreicht. Nicht in technischer Hinsicht, wohl aber in seinen Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt. Wer sich in Stoßzeiten durch die Städte bewegt, kann ein Lied davon singen: Blechlawinen stehen Stoßstange an Stoßstange, tonnenschwere Fahrzeuge, meist nur mit einem einzigen Insassen besetzt, husten – jedes einzelne für sich – Abgase in die Atmosphäre. Sie nehmen uns nicht nur die Luft zum Atmen, sondern auch ein Stück weit den Raum zum Leben. Überall, wohin das Auge sieht, Autos bis zum Horizont. Immer mehr, immer größer, immer schwerer… so kann es doch nicht weitergehen, oder was meinen Sie?


Können Sie sich einen Umstieg vom Auto auf die öffentlichen Verkehrsmittel vorstellen?

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Wie ambitioniert die Pläne aus Stuttgart sind, den öffentlichen Nahverkehr bis in die entlegensten Winkel des ländlichen Raums populärer zu machen, zeigt der Blick aufs Detail: Wenn es von der Haltestelle immer noch 3 Kilometer bis nach Hause sind, wenn Ticketpreise Jahr für Jahr preislich weiter entgleisen, wenn Busse und Bahnen verkommen und verdrecken, wenn respektlose Mitfahrer/innen pöbeln, sich wie Schweine aufführen und ein aggressives Gebaren an den Tag legen und nicht zuletzt auch Bahnhöfe in den Kraichgau-Städten allmählich zu No-Go-Areas mutieren, dann kann der Fahrplan noch so sehr stimmen, die Menschen werden dann im Zweifelsfall weiter ihre Autos nutzen.

Trotz aller Widrigkeiten und aller Unkenrufe, ich würde sehr gerne auch auf dem Land den Umstieg auf den ÖPNV schaffen. Wenn der Staat es schafft, mir ein Angebot, einen Takt und eine Netzdichte zur Verfügung zu stellen, die eine echte Alternative zur individuellen Mobilität darstellen, nutze ich dieses Angebot mit Handkuss. Wenn er es schafft mich ohne erhebliche Zeitnachteile im Vergleich zu einer Autofahrt, zu vergleichbaren Preisen, in sauberen und sicheren Fahrzeugen und über nicht minder saubere und sichere Bahnhöfe und Haltestellen zu transportieren, würde ich mich glücklich schätzen, Kunde dieses ÖPNV 2.0 zu werden.

Solange ich aber für eine Fahrt mit den Öffis drei bis viermal so lange brauche, wie mit dem eigenen Fahrzeug, dafür das drei bis vierfache bezahle, um am Ende in einer lauten und verdreckten Bahn zu sitzen, sehe ich die Alternative nicht wirklich vor mir. Bis dieser Systemwechsel gelingt muss der Leidensdruck im eigenen Auto – inmitten von Qualm, Dauerstau und Abgaswolken, vermutlich noch ein ganzes, grausames Stück größer werden.

Schöner noch als die Menschen aus reiner Alternativlosigkeit zu diesem Umstieg zu bewegen, wäre es doch sie dahingehend zu verführen… Mit einem guten, günstigen und sauberen ÖPNV kann das vielleicht sogar gelingen. Go Go Go Stuttgart.

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4 Gedanken zu „Nicht ohne mein Auto“

  1. Nun es ist leider so z.t wie es in dem Bericht beschrieben wird .
    Der ÖVN wird immer teurer, und die Fahrzeiten sind manchmal katastrophal. Es kann doch niemanden zumutbar sein wenn er zur Frühschicht müsste ,mit dem Auto 20 min.und mit der Bahn 2 Stunden.
    Und das ist realistisch und können sicher viele nachvollziehen.
    Es wäre gut wenn man ans Klima denkt. Es ist aber auch so das wenn ein Millionär ins Weltall zum Spaß fliegen kann,ich mich frage ,warum ich umständlich mit der Bahn ins Geschäft fahren soll?
    Wir haben insgesamt ein größeres Problem wie ,Blech an Blech!

  2. Eines der Probleme – und nicht das geringste – sind die fehlenden Fahrer: Bus-, Straßenbahn-, Eisenbahnfahrer werden händeringend gesucht (Ausbildungszeit für Straßenbahnfahrer etwa 4 Monate), aber niemand will das machen. Dann doch lieber Youtubestar und Influencer.

  3. Die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr könnte auch Chancen bieten. Wie hat sich die technische Entwicklung in den letzten 20 Jahren beschleunigt? Was machen wir heute nicht alles mit dem Smartphone, das es so vor 20 Jahren noch gar nicht gab? Und umgekehrt: die Dörfer sind heute bereits zugeparkt. Wie wird das, wenn erst mal in jeder zweiten Reihe in den Kraichgaudörfern aus der Scheune ein Mehrfamilienwohnhaus mit 2 PKW pro Wohnung wurde? Wo parken die alle hin, die Plätze reichen heute schon nicht aus. Und eine Ampel reicht aus, um das Kraichtal verkehrlich an den Rand des Kollaps zu bringen. Wie wäre es, wenn wir unsere Neubaugebiete nicht um die Erschließungsstraßen und Parkplätze sondern um die Menschen herum planen würden. Wenn man Kinder wieder vor die Tür schicken könnte mit nichts als dem Hinweis: „Um sechs bist du wieder daheim“. Vor der Tür hat es Platz für Kinderspiele und für Grasmücken, für Wildbienen und Schmetterlinge. Es gibt ja bereits Ideen für eine neue Mobilität: Stadtbahn/ÖPNV als Rückgrat, vor Ort autonom fahrende Anrufsammeltaxis, Leih-E-Cars, Leih-E-Bikes. Das Zalandopaket kommt per Volocopter oder Drohne vor die Haustür. Alles gesteuert durch KI. Und zum Bäcker kann man auch auf dem Land mal mit dem Fahrrad fahren. Unnötige Mobilität entsteht erst gar nicht, z. B. durch Homeoffice-Lösungen. Leider kommen die Stadtplaner bei der Bauleitplanung immer noch mit dem Sammelordner aus den 70er Jahren daher, die alten Pläne hier und da durch ein paar neue Schraffuren ergänzt. Hier würde man sich mehr Mut wünschen, auch auf dem Land. In den Städten (Freiburg, Wien) oder in anderen Ländern (Niederlande, Dänemark) ist man da weiter und mutiger. Wo sind die Pilotprojekte?
    Und ganz ehrlich: es geht nicht darum, das Auto zu verteufeln. Aber wir verbrauchen definitiv mehr Ressourcen, als der Planet hergibt. In D das 2,7fache, in den USA das Fünffache. Weiter so? Auf den Fortschritt hoffen? Der New Beetle verbraucht heute so viel Sprit wie der Käfer vor 50 Jahren. Die Fortschritte wurden „einfach“ durch Leistungssteigerung und mehr Komfort aufgefressen. Gleiches Spiel bei Wärmedämmung und Wohnfläche pro Kopf. Unsere Planung von heute entscheidet über die Realität von morgen. Bisschen vorausblicken könnte sich lohnen.

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