Wer neu in den Kraichgau zieht braucht mitunter viel Sitzfleisch, bis er wirklich dazu gehört
von Stephan Gilliar
Irgendwo dazugehören, Teil einer Gemeinschaft sein, einen Ort zu haben, an den man immer zurückkehren kann, an dem man immer zu Hause ist. Das ist wohl eine Sehnsucht, die viele von uns spüren, mich eingeschlossen. Da meine Familie sich bedauerlicherweise dafür entschieden hat Scheidungen und diverse Umzüge in meine frühe Biografie zu packen, gibt es einen solchen Ort aber leider nicht – kein Elternhaus oder gar ein altes Kinderzimmer, das auf einen wartet und immer Trost spendet. Nicht ohne Grund schaue ich mir wahnsinnig gerne Filme und Serien über harmonische Kleinstädte an, gebe sogar zu alle Staffeln der Gilmore Girls mehrfach gesehen zu haben. Ein Dorf, eine Gemeinschaft, Zusammenhalt, Frieden und Freundschaft… leider in dieser Reinform eine Utopie, aber eine schöne…
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es nach langen Jahren auf Achse war, in denen ich mal hier, mal da gewohnt und gearbeitet habe, wieder in den Kraichgau zurückzukehren. Ich bin nicht fremd hier, schließlich habe ich große Teile meiner Kindheit in Eppingen verbracht, aber der Kraichgau ist eben nicht nur das Land der tausend Hügel, sondern auch das Land der 1000 Grenzen, im Grunde läuft um jedes Dorf herum eine. An meinem ersten Abend, das ist jetzt recht genau 20 Jahre her, suchte ich mir die nächstgelegene Gaststätte, um ein Bier zu trinken. Ich nahm in der Rose in Unteröwisheim Platz, das Gasthaus gibt es schon seit einigen Jahren nicht mehr. Am Stammtisch saßen mehrere Männer, die mich fortan nicht mehr aus den Augen ließen. Das einzige Geräusch, das in den ersten Minuten zu hören war, war das Ticken der Standuhr, das werde ich nie vergessen. Mehrere Augenpaare auf mich gerichtet, ansonsten Stille. Und ich? Ich sag es mal so, so schnell habe ich noch nie ein Schnitzel vertilgt, einen Geldschein auf den Tisch gelegt und mich verkrümelt.
Klingt gruselig, werden Sie jetzt vielleicht sagen und verdammt – das war es auch. Doch als Neuzugezogener oder als Neischmeckter in einem Dorf Fuß zu fassen ist zwar hier und da verdammt schwierig aber nicht unmöglich. Heute kenne ich fast jeden der Männer, die damals am Stammtisch saßen. Man begrüßt sich mit dem Vornamen, schlägt sich freundschaftlich auf die Schulter, schwätzt ein bisschen oder trinkt beim Vereinsfest ein Bier zusammen. Stück für Stück geht man aufeinander zu, lässt es ganz langsam angehen, forcieren lässt sich auf dem Dorf nach meiner Erfahrung nach rein gar nichts. Ich hatte Glück, anderen erging es da deutlich schlechter. Ich kenne Geschichten von Menschen, die auch Jahrzehnte nach ihrem Umzug noch nicht wirklich in ihrer neuen Wahlheimat Fuß fassen konnten, teilweise von ihrem Umfeld abgelehnt werden. Einen Schuldigen zu benennen, fällt in solchen Fällen aber schwer, denn für eine erfolgreiche Integration braucht es Bereitschaft auf beiden Seiten.
Ich persönlich bin allerdings der Meinung, dass der Löwenanteil der Bringschuld dem Neuen zufällt. Ich kann nicht in ein Dorf ziehen und erwarten, dass man mich mit offenen Armen empfängt und sich aktiv um meine Integration kümmert. Wenn ich in eine bestehende Gemeinschaft ziehe, muss ich die gewachsenen Strukturen und deren unausgesprochenes Regelwerk weitestgehend akzeptieren. Ich kann allerdings auch erwarten, dass man mich nicht kategorisch ablehnt und mir eine faire Chance gibt. In meinem Fall hat mir meine Arbeit als Lokaljournalist dabei geholfen, anzukommen und aufgenommen zu werden. Ich interessiere mich sehr für alles, was um mich herum passiert und insbesondere für die Menschen, die hier leben und wirken. Wertschätzung und Augenhöhe sind enorm wichtig, “von owwe herab” – das mag man im Kraichgau nicht. Weiterhin sind meine Familie und ich Mitglied in mehreren Ortsvereinen geworden, etwas, das ich uneingeschränkt empfehlen kann, wenn man sein neues Umfeld kennenlernen und sich einbringen möchte. Vereine sind der Schlüssel zum Dorf und zu den Menschen, die darin leben.
Es gibt Gemeinden im Kraichgau, in denen das Dorfleben noch hervorragend funktioniert, in denen ein harter Kern mit viel Liebe und Leidenschaft alles am Laufen hält. Odenheim ist so ein Beispiel. Ein Ort, der den Zusammenhalt und die Gemeinschaft noch wirklich groß schreibt. Hier gibt es umtriebige Arbeitsgemeinschaften und Vereine, die nicht nur die traditionellen Feste und Bräuche beleben, sondern sich auch immer wieder etwas Neues einfallen lassen und sich zudem aktiv um Nachwuchs und die Jugend kümmern. Dagegen gibt es aber auch zahlreiche Ortschaften in denen das nicht mehr wirklich funktioniert, in denen Vereine sich auflösen und Feste und Traditionen Stück für Stück wegbröckeln. Wenn man mit den Alten in diesen Dörfern redet, so berichtet ein jeder davon mit reichlich Sehnsucht und Wehmut in der Stimme, wie groß der Zusammenhalt früher war.
Fragt man sie, wieso das heute anders ist, hört man oft, dass es an den Zugezogenen liegt. Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit, aber ein gewichtiger Teil davon. Seit der Wohnraum in den Ballungsräumen um Städte wie Karlsruhe oder Heidelberg knapp und teuer geworden ist, ziehen immer mehr Menschen aus der Stadt in ländliche Gebiete um – manche davon nur physisch, während das Herz weiter für die Stadt schlägt. Unsere Region ist in Sachen Nahverkehr recht gut aufgestellt, deswegen ist die Nachfrage nach Immobilien weiterhin äußerst hoch. So entstehen teilweise Neubaugebiete, die scheinbar keine Verbindung nach innen in Richtung des alten Dorfkerns haben, sondern mehr als reine Wohnburgen wahrgenommen werden. So mancher Städter wohnt dadurch günstig auf dem Land, sieht seinen Lebensmittelpunkt aber weiterhin in der Stadt, eine Konstellation die Integration überhaupt keine Nährboden gibt – so zumindest meine Wahrnehmung. Wer gar nicht erst versucht, in einem Dorf Fuß zu fassen, das Dorf nur als Ansammlung von Häuser begreift, die das eigene umgeben, für den ist natürlich von vornherein Hopfen und Malz verloren.
Das ist äußerst schade, weil sich der Neue dadurch nicht nur eine wunderbare Erfahrung als Mitglied einer Gemeinschaft verwehrt, sondern auch unbewusst dafür sorgt, dass bestehende Strukturen langsam ausbluten. Klar ist auch, die Alteingesessenen machen es den Neuen hier und da alles andere als leicht, nichts scheut der Kraichgauer mehr als Veränderung. Dem Neuen begegnet er nicht selten mit versteinertem Gesicht und in Abwehrhaltung, auf diese Weise ist es schwer, zu ihm durchzudringen. Ein nettes Lächeln, ein offener Blick, ein Gruß oder jede kleine Geste könnten hier sicher oftmals wahre Wunder bewirken.
Allen neu Zugezogenen kann ich jedoch nur wärmstens empfehlen, am Ball zu bleiben und sich um die neue dörfliche Wahlfamilie zu bemühen. Glauben Sie mir, es lohnt sich. Die Kraichgauer sind zwar wie eine Kokosnuss – raue Schale, sehr schwer aufzubekommen – aber wer sich bis zum Inneren vorarbeitet, stößt auf ein weiches und nicht selten zuckersüßes Herz.
So schön geschrieben, auch bin bin aus dem Kraichgau und selber nach Kraichtal gezogen vor 35 Jahren. Es ist am Anfang schwer und kostet Überwindung.Aber man muss hier auch“ leben“ nicht nur wohnen ! Kraichtal ist egal welche Ortschaft, wunderschön.Ob zum Wandern ,Radfahren oder leben.Man muss Kraichtal nur ins Herz lassen.
Tja, da bin mal gespannt, wie es mir denn ergeht, wenn ich eines Tages mein geleibte Heimat den Kraichgau verlasse und über den Rhein auswandere. NEIN, nicht in die Pfalz, sondern ins Elsass. Das hätte ich mir nicht vorstellen können, aber die Frage, die ich mir täglich stelle: lebe ich in einem Irrenhaus (auch die Aussage von wolfgang Grupp) oder ist es offene Psychatrie.
Jo, auch ich bin vor 30Jahren nach Kraichtal gezogen. Ob ich das nochmal machen würde… ich weiß es nicht.
Wohlwissend, dass es noch ganz andere harte Nüsse in D gibt…komme aus Hohenlohe…zieht da Mal hin!
Nach einer Generation ist man vielleicht drin. Da ist das Kneipenerlebnis des Autors noch ein Kindermärchen dagegen.
Die Dorfleute hier sind schon OK, schlimm hier ist die Stadtverwaltung und unser Bürgermeister mit seinen Neubaugebieten.
Begrüßung von Zugezogenen…Fehlanzeige. Das geht woanders besser (musste meinen Wohnort früher mehrfach wechseln).
Nach 30 Jahren und bewusstes Leben in der Dorfmitte kann ich nur sagen: weiter so, dann sind die Dörfer genau das, wie im Artikel angedeutet: Bettenburgen, die am Verkehr und an Neubaugebieten ersticken. Besser geworden ist das nix.
Sehr schade!
In Kraichtal gibt es jedes Jahr einen netten Neubürgerabend…
„Wenn man mit den Alten in diesen Dörfern redet, … … wie gross der Zusammenhalt früher war“.
Meine unmittelbaren Vorfahren, Eltern und Großeltern, kamen 1946 als Vertriebene.
Von einem „grossen Zusammenhalt“ haben die nie erzählt und schon garnicht von „zuckersüssen Herzen“.
Kann ich nur bestätigen…Eigenbrötler, Hinterwäldler und Jahrzehnte zurück.
Und das immer noch…siehe reg. Energien und Verkehr.
Es ändert sich einfach nix!
Als ich von KA hier raus gezogen bin, hat man mich nur gewarnt.
Sie hatten Recht!
Never ever!
Da kenne ich ganz andere Geschichten. Ein Freund, der als Kind nach Obergrombach gezogen war, war nach 40 Jahren noch der Zugezogene und nach drei Wochen in Unneroise zuhause. So unterschiedlich ist das Leben.
Ja, das kann ich bestätigen. Dass dich in Odenheim Menschen grüßen, geschweige denn, dich ansprechen, das passiert so gut wie nie. In Unneroise auf eine Mitfahrerin gewartet, schon kam der Nachbar und verwickelt dich in ein Gespräch.
Vielfalt ist das nicht !