“Muskeln? Das reicht bei weitem nicht”

| ,

Beim Boxsport im Bruchsaler Pugilist spielt vieles eine Rolle – Alter, Geschlecht, Abstammung, Gewicht oder Nationalität gehören nicht dazu

von Stephan Gilliar

Ein bisschen nervös bin ich schon, als ich mich der alten Tennishalle in der Schwetzinger Straße nähere. Tausendmal bin ich schon an ihr vorbeigefahren, tausendmal habe ich mich gefragt, wie es in ihr wohl aussehen könnte. In meiner vagen Vorstellung ist es eine dunkle Halle, in deren Mitte der Boxring von ein paar alten Glühbirnen in rostigen Lampenschirmen beleuchtet wird. Träge wälzen ein paar Ventilatoren die diesige Luft und den Qualm aus der Zigarre des Cheftrainers um, der bärbeißig und breitbeinig an den Seilen steht und in Sturzbächen schwitzenden Boxern in Zeitlupe Anweisungen zuruft.

Sie merken schon, mein gesamtes “Fachwissen” habe ich dem ersten Teil der Rocky-Filmreihe entnommen, mit allenfalls einer vagen Vorstellung von diesem Sport im Kopf, der sogar schon 700 Jahre vor Christus Menschen fasziniert hat. Doch der Pugulist in Bruchsal ist nicht Mighty Mick’s Gym und Holger und Henner, die mich freundlich begrüßen, sind nicht Burgess Meredith oder Apollo Creed. Beide gehören zur Vorstandschaft des Vereines Pugilist Boxing Gym Bruchsal e.V. und das seit Anfang an. Holger als Geschäftsführer (O-TON “Ich bin der einzige BWLer”) und, Henner als Präsident und in seiner beruflichen Eigenschaft als Mediziner natürlich auch als Sport- und Ringarzt.

Rahimov Rustamhodza beim Training

Seite an Seite mit ihrem Jugendfreund Bardia Gharib sowie fünf weiteren Gründungsmitgliedern hoben sie 1998 den ersten Boxverein Bruchsals aus der Taufe und benannten ihn nach dem lateinischen Wort Pugil, was für den Faustkämpfer steht. Begonnen hat alles in engen Kellerräumen in der Pfeilerstraße, damals noch ohne Waschräume und nur einem einzigen Fenster zur Straße. Doch die Idee stieß in Bruchsal auf derart viel Resonanz, fiel auf derart fruchtbaren Boden, dass die Zahl der Mitglieder rasant anstieg. Nach kurzer Zeit war der Keller viel zu eng und auch die nachfolgenden Räumlichkeiten in einem Hinterhaus in der Franz-Bläsi-Straße platzten bald aus allen Nähten. 2002 bezogen die Pugilisten die zusammen erworbene, alte Tennishalle in der Schwetzinger Straße, bauten diese gemeinsam Stück für Stück aus.

Auch wenn Boxen immer der Kern des Vereins – der Pugilist immer ein Boxverein bleiben wird, ist das Angebot in all den Jahren doch immer weiter gewachsen. Zwischenzeitlich bietet der Verein viele weitere Sportarten an, hat ein umfangreiches Kursprogramm im Repertoire. Beachvolleyball, Basketball, Fitness und sogar Breakdance… die Bandbreite ist riesig. “Wir wollen immer wieder etwas Neues bieten“, erklärt Holger die eigene Motivation, immer up to date zu bleiben und auch neuen Trends zu folgen. Ein Konzept, das ankommt, der Pugilist ist auch nach einem Vierteljahrhundert ungebrochen beliebt bei den Menschen. Zwischenzeitlich ist die Vereinsfamilie auf über 3800 Mitglieder angewachsen, Tendenz weiter steigend.

Bei einer solchen Mitgliederzahl das Familiäre zu bewahren, ist dabei eine echte Herausforderung. “Wir erwarten nichts von unseren Mitgliedern, aber jeder, der sich einbringen möchte, kann das sehr gerne tun“, versichert Henner und zeigt mir bei der kleinen Führung durch die riesige Halle diverse Projekte, die Vereinsmitglieder engagiert auf eigene Faust umgesetzt haben. Im Grunde ist die ganze Halle ein solches Projekt, alles hier wurde in Handarbeit von den Pugilisten selbst erschaffen. Die massive Holzbrücke, die sich an einer Hängekonstruktion über den großen Boxring spannt, gehört genauso dazu wie die liebevoll gestalteten Zeichnungen und Graffitis an den Wänden. Die meisten zeigen Boxmotive, eines zum Beispiel Mohammed Ali und auch von Henners T-Shirt grinst mir Sylvester Stallone entgegen. Die eigenen Helden trägt man eben eng am Herzen.

Im Verein trifft hier jeder auf jeden. Es gibt Alte, Junge, Große, Kleine, Männer, Frauen, die so ziemlich jeder Ecke dieser Erde entstammen. Wo normalerweise Konflikte vorprogrammiert wären, schafft es der Sport, die vielen unterschiedlichen Individuen vielleicht nicht zu vereinen, aber doch einander respektvoll zu begegnen. Denn dass Boxen mehr als der brachiale Einsatz von purer Muskelkraft ist, das weiß hier jeder. “Das mentale Training ist mindestens genauso wichtig wie das Körperliche“, erklärt mir Henner. “Es gilt, daran zu wachsen – sowohl während dem Kampf, als auch davor und danach. Nur Muskeln? Das reicht bei weitem nicht”

Ich halte fest – Boxen hat mehr Facetten, als man landläufig glauben möchte. Es braucht Disziplin und Hingabe. “Du musst dich quälen und schinden” lacht Holger und stellt mir den Cheftrainer Rustamhodza Rahimov vor – eine echte Legende. Ursprünglich geboren in Dushanbe in Tadschikistan hat er für seine deutsche Wahlheimat gleich mehrere große Titel bei Welt- und Europameisterschaften gewonnen, stand 2008 sogar bei den Olympischen Sommerspielen in Peking im Ring. Heute lehrt er im Pugilist lernwilligen Nachwuchs seinen Sport, das Boxen, und liebt dabei seine Arbeit im Bruchsaler Verein.

Rahimov Rustamhodza beim Training

In zwei Wochen wird dieser besondere Verein 25 Jahre alt, ein Jubiläum, das es zu feiern gilt. Vom 12. bis zum 14. Mai steht daher ein großes Fest auf dem Programm, mit Live-Musik, Food Trucks und allem, was dazugehört. Wenn sie wie ich bisher über das Boxen nur in klischeehaften Stereotypen gedacht haben, wäre das doch eine gute Gelegenheit, eventuelle Ressentiments und Hemmnisse über Bord zu werfen. Hier ist tatsächlich jeder willkommen – egal ob sie nun Mickey, Rocky, Apollo, Holger oder Henner heißen.

Vorheriger Beitrag

“Papa, des is eh dein Leben”

Eppinger Frühling 2023

Nächster Beitrag