Lost Places: Das alte Kinderhaus Oberöwisheim

| , ,

Ein Stück vergessener Ortsgeschichte

Verlassen dämmert das alte Gebäude an diesem Sommertag im Jahr 2018 im Schatten der Dorfkirche vor sich hin. Das letzte Kinderlachen hallte bereits vor über 50 Jahren durch die Räume des einstigen katholischen Schulhauses von 1772. Bis 1964 betreute hier eine Diakonissenschwester den Dorfkindergarten. Die alte Dame lebte dann noch bis Mitte der 80er in dem aufgegebenen Gebäude, danach verfiel es zusehends. Dabei war das markante Haus im oberen Dorfteil fast 60 Jahre lang ein lebendiger Teil des Ortslebens. 1907 beschloss die evangelische Kirchengemeinde den Kauf des alten Schulhauses für 5000 Mark. Für den Umbau wurden weitere 4800 Mark zur Verfügung gestellt, die sich am Ende mit über 8000 Mark nahezu verdoppelten und die Gemeinde in finanzielle Schieflage brachte. Im 7 Meter langen und 6 Meter breiten Schulsaal tummelten sich damals bis zu 96 Kindern gleichzeitig, die Schulschwester lebte in einem Zimmer direkt nebenan. Die jüngsten Kinder waren gerade einmal 2 Jahre alt – die Älteren 6 Jahre. 15 Pfennig kostete damals das Schulgeld pro Kind und Woche – mit diesem Betrag mussten alle Ausgaben wie zum Beispiel das Jahresgehalt der Schwester von 469 Mark bestritten werden. Da das Geld natürlich vorne und hinten nie ausreichte, war der Kindergarten von Anfang an auf Spenden angewiesen. Wie arm die Oberöwisheimer Dorfbevölkerung damals war, zeigt eindrucksvoll ein Untersuchungsbericht des Gesundheitsamtes aus dem Jahr 1932. Von 34 untersuchten Kindern, wiesen 19 teilweise bedenkliche gesundheitliche Mängel auf. Während Kopfläuse noch bei den meisten vertreten waren, fanden sich bei einigen auch Verdachtsmomente für Tuberkolose oder Herzfehler.

Fast 100 Kinder in einem Raum

1921 wurde im engen Dachraum des Hauses eine Krankenstation eingerichtet. Der Untersuchungsraum war so eng, dass aufrechtes Stehen nicht möglich war. Das Wasser musste – wie überall im Ort – in Eimern aus dem Dorfbrunnen gezogen werden. Durch die beiden Weltkriege wurden die Kirche und der Kindergarten mangels Geld für die Instandhaltung immer baufälliger. 1955 zog das Jugendamt die Reißleine und drängte die Gemeinde zur Instandsetzung. Obwohl diese mit den Ausgaben völlig überfordert war, begannen die Sanierungsarbeiten im Jahr darauf. In langen Kolonnen fuhren die Bauern ohne jede Entlohnung die nötigen Ziegel und Balken aus Gochsheim zur Baustelle nach Oberöwisheim. Keinen Tag zu spät – Der Kirchturm war so marode, dass er bei jedem Sturm einzustürzen drohte, ebenso das alte Pfarrhaus. Der alte Kindergarten war jedoch nicht mehr zu retten, so dass ein Neubau unumgänglich wurde. 1958 begannen die Planungen des 200.000 Mark teuren Projektes. Der nötige Platz am südlichen Kirchberg wurde der Gemeinde per Schenkung überlassen.

Kinderskelette überall

Beim Abriss der alten Kirche wurden im Boden bis unter das Fundament des alten Kindergartens reihenweise Skelette entdeckt. Offenbar waren beide Gebäude auf bestehenden Friedhöfen errichtet worden. Manche der Knochen waren zu kleinen Pyramiden aufgerichtet auf deren Spitze des Schädel saß. Bis auf eine alte Tür aus dem Jahr 1592 und dem Wappenstein des Bischofs von Venningen konnte von der alten Kirche kaum etwas in den Neubau gerettet werden. Heute – anno 2018 – steht der alte Kindergarten fast unverändert im Schatten der Kirche und wartet geduldig. Die Kirchengemeinde hat kein Geld um das Gebäude instand zusetzen und so nagt der Zahn der Zeit weiter daran. Aus Platzgründen musste die alte Zugangstreppe abgerissen werden, alle anderen Eingänge sind versperrt. Kinder aus dem Dorf haben die Fenster des Hauses eingeworfen und so toben sich die Elemente ungehindert an diesem Stück Oberöwisheimer Geschichte aus. Wie die Zukunft des fast 250 Jahre alten Hauses aussehen mag, kann sich hier keiner so recht vorstellen.

dieser Artikel erschien erstmals im Sommer 2018

Vorheriger Beitrag

Es war einmal: Die Todesraupen von Bretten – Eine Stadt in Angst und Panik

Der verbotene „Polizeiruf 110“ aus Eppingen

Nächster Beitrag