Lost in Forst

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Die verlorenen Seelen des „Alle Richtungen“-Irrgartens

Eine Odyssee des Grauens von und mit Thomas Gerstner

Es gibt einen Ort mitten im Kraichgau, den ich als Autofahrer fürchte wie der Teufel das Weihwasser. Google Maps verortet die Gemeinde Forst irgendwo im Norden Bruchsals und im Westen von Ubstadt-Weiher. Doch wie bei der Insel aus “Lost”, würde ich darauf nicht all zuviel geben. Forst ist für Autofahrer das, was für Schiffe das Bermuda Dreieck ist. Wer sich einmal hinein verirrt hat, der findet nie wieder heraus!

Es ist mir tatsächlich noch nicht einmal gelungen, Forst auf demselben Wege zu verlassen wie ich es betreten habe. In Forst wurden alle der für mich völlig gleich aussehenden Straßen, nur mit einem einzigen Straßenschild ausgestattet – das dafür aber gleich 450 mal! In welche Richtung man in Forst auch abbiegen möchte, überall signalisiert einem das brüllend gelbe Straßenschild dass man in Richtung “Alle Richtungen” unterwegs sei.

Schon Legenden aus dem finsteren Mittelalter berichten von Pferdefuhrwerken die nach Forst fuhren und nie wieder gesehen waren. Alte Holzschnitte aus dem 14. Jahrhundert zeigen jene Monster die Kartographen bislang nur am Rande der Weltmeere, dort wo die Schiffe von der Erdscheibe zu fallen drohten zeichneten, auch im Herzen von Forst.

Auch ich kann mich an meine letzte Irrfahrt durch Forst erinnern, damals im stürmisch-kalten Winter im Jahre des Herrn 2018. Ich erreichte die ersten Häuser des Dorfes im letzten Licht das Tages und passierte das Ortsschild in der Bruchsaler Straße, dort wo der Supermarkt zu meiner Rechten lag. Das Ziel meiner Reise, eine Apotheke mit Wochenendbereitschaft, war schnell erreicht und nun war es an mir die Rückreise anzutreten. Ich folgte der Beschilderung in “Alle Richtungen”, passierte einen Italiener, einen Bäcker und einen Griechen und war….wieder bei der Apotheke. Verwundert orientierte ich mich neu und fuhr in die entgegengesetzte Richtung – vorbei an dem Bäcker, dem Italiener und dem Griechen. Gerade als ich glaubte den Ortsausgang zu erkennen, tauchte vor mir im Nebel das scharlachrote “A” der Apotheke auf. Ich bekam es mit der Angst zu tun und fuhr mit quietschenden Reifen panisch los, lies den Bäcker, den Italiener und den Griechen hinter mir, passierte den Italiener, den Griechen und den Bäcker und sah zuerst zu meiner Linken – später zu meiner Rechten, den Bäcker, den Italiener und den Griechen an mir vorbeiziehen. Bei der Apotheke springe ich irre kreischend aus meinem Auto und laufe kopflos an den “alle Richtungen” Schildern vorbei durch die Forster Nacht. Auf einmal sehe ich rechts von mir einen Lichtschein. Auf einem großen Platz, im Schatten einer imposanten Kirche, sitzt eine Schar zerlumpter Gestalten um ein Lagerfeuer. Gebrochene, wissende und mitleidige Blicke empfangen mich. Ein uralter Mann erhebt sich und geht auf mich zu. Er stellt sich mir als Heinrich vor und erzählt mir, dass er sich als junger Mann mit 25 Jahren dereinst nach Forst verirrte und seither nach einem Ausweg sucht. Zustimmendes Gemurmel aus der traurigen Runde…. nach und nach erfahre ich die Geschichten der verlorenen Seelen von Forst. Von Rainer, der 1974 nur ein paar Zigaretten holen wollte, oder von Martin der bereits in zweiter Generation hier auf dem Dorfplatz lebt, seit seine hochschwangere Mutter sich 1968 in Forst verfahren hatte…. Sie alle waren den sirenenhaften Schildern mit der Aufschrift “Alle Richtungen” gefolgt, Runde um Runde, bis kein Benzin mehr im Tank war.

Mit jeder weiteren Geschichte aus dieser Gruppe der Verzweifelten, sinkt mir der Mut Stück um Stück. Plötzlich bäume ich mich auf, schreie in den trüben Nachthimmel. Nein, ich werde nicht in Forst sterben – das sollte niemand müssen! Ich springe in mein Fahrzeug, dessen Tankanzeige bereits orange blinkt und fahre als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Ich komme an der Bäckerei, am Italiener und am Griechen vorbei… als vor mir die Apotheke auftaucht, legt sich ein roter Schleier vor meine Augen. Ich reiße das Steuer nach rechts, durchbreche einen Gartenzaun, walze Hecken, Büsche, Gartenmöbel und Wäscheleinen nieder… Meine Reifen greifen wieder auf dem Asphalt und vor mir taucht wie ein Licht in dunkler Nacht das Ortsausgangsschild auf. Tränenüberströmt verlasse ich Forst und sehe hysterisch lachend im Rückspiegel die Häuser kleiner werden. Irgendwo auf einem Feldweg halte ich an, stürze aus dem Wagen und knie auf dem kühlen Erdreich nieder. Nie wieder werde ich dieses von M.C. Escher höchstpersönlich entworfene Labyrinth betreten. Nie wieder.

Diesen Grundsatz habe ich bis heute nicht gebrochen, nicht einmal dann als ich bemerkte dass ich meine Frau in der Apotheke vergessen hatte.

dieser Beitrag erschien erstmals im Spätjahr 2018

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