“Iwerall über b’soffene Kinner g’stolpert”

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Enthemmte Chaoten haben dem Image der Kraichgauer Fastnacht stark geschadet – Es wird Zeit, dass sich das ändert

Wenn Margit und Wolfgang von ihrer Sturm-und Drang-Zeit reden, meinen Sie damit die späten 70er-Jahre. Damals als Smokie, ABBA und Boney M in den Charts rauf und runter liefen, als die RAF das Land in Atem hielt, Willy Brandt noch Bundeskanzler war, Rocky im Kino anlief und Elvis Presley zuhause einen einsamen Tod starb. Von all dem bekam man im kleinen Zeutern hinter den sieben Bergen mitten im Hügelland nur das bisschen mit, das es in die Zeitung oder in die abendliche Tagesschau-Ausgabe schaffte. Ansonsten drehte sich im Dorf alles um… na ja, das Dorf eben. Ausgegangen, gefeiert, gelebt, eingekauft und oft auch gearbeitet wurde noch direkt vor Ort – die große weite Welt war weit, weit fort.

Im kleinen Zeutern gab es alles, was es dafür brauchte. Lebensmittelläden, Metzger, Bäcker, unzählige Gaststätten und mit dem “Floh” der Zanki-Brüder sogar eine Disco mit echtem Kult-Potential. Hier verbrachten Margit und Wolfgang ihre Samstag-Abende zusammen mit Freunden – oft bis in den jungen Morgen. “Die große Stadt gab es gar nicht, man ist halt im Dorf geblieben” erzählen die beiden unisono.

Früher war nicht alles besser, aber anders…!

Ein Höhepunkt im Veranstaltungskalender des kleinen Zeutern war – wie an so vielen anderen Orten im Kraichgau auch – die alljährliche Fastnacht. Vom schmutzigen Donnerstag bis zum Aschermittwoch wurde gefeiert. Bälle und Sitzungen in der brandneuen Mehrzweckhalle oder im alten Saal der heutigen Pizzeria Da Tony. Maskenbälle, Schwofen zur Livemusik von örtlichen Bands, Seniorensitzungen, Kinder, die so aufgeregt waren, als hätten Sie noch nie in ihrem Leben ein Guzele bekommen, erinnert sich Margit an diese Tage zurück.

Schon damals war die Fastnacht ein Highlight, auf das alle Narren schon Wochen im Voraus hin fieberten. Sie war bunt, sie war wild, sie schlug auch manchmal über die Stränge – aber die extremen Eskapaden, für die sie in den letzten Jahren zunehmend bekannt wurde, gab es damals in dieser Form noch nicht… das sind sich Margit und Wolfgang sicher. Reihenweise alkoholisierte Kids und Jugendliche, eskalierende Schlägereien und Polizeieinsätze, das gab es damals zumindest im kleinen Zeutern und auch im Umland in diesem Ausmaß nicht. Wenig Verständnis haben die beiden für Szenen, die sie noch nicht allzu lange her bei Umzügen in der Region miterlebt haben. “Iwerall über bsoffene Kinner gstolpert” erzählt Margit und weiß genau: “Des hots so friher net gewwe.” “Des hätten wir uns gar nicht getraut”, bekräftigt auch Wolfgang, wenngleich man auch in seiner Jugendzeit problemlos an Alkohol gekommen wäre. Schließlich haben die Eltern oder Großeltern die Jungen öfter zum Einkaufen in den Dorfladen geschickt. Einen Schnaps oder ein Bier mitzubringen war damals selbstverständlich und keine große Sache, man kannte sich eben noch. Jugendliche Alkoholleichen und gerade erst den Kinderschuhen entwachsen Teenager, die im Krankenhaus wegen einer Alkoholvergiftung behandelt werden müssen, das sind Bilder, die weder Margit noch Wolfgang aus ihrer Jugendzeit kennen.

Sie müssen es wissen, die beiden haben nicht nur jahrzehntelang die Entwicklung ihrer Fastnacht miterlebt, sondern Sie auch mitgeprägt. Vor über 22 Jahren riefen sie den Dämmerungsumzug in Zeutern ins Leben, eine der letzten Veranstaltungen, die im Kraichgau zu fortgeschrittener Stunde noch stattfindet. Los geht es, das sagt der Name schon aus, erst bei Einbruch der Dunkelheit. Die Narren bahnen sich dann – ohne jegliche Motorisierung und nur zu Fuß – ihren Weg durch das kleine Weindörfchen. Der Umzug ist überaus beliebt, besonders bei Familien. “Do kann ma d’Kinner renne losse” bekommt Margit immer wieder als positives Feedback von Eltern, nicht nur aus Zeutern zu hören. Tag und Uhrzeit für den Umzug wurden anno 2010 ganz pragmatisch ausgewählt, es galt einfach eine Lücke im vollgestopften, närrischen Terminkalender der Region zu finden. Wobei, ein bisschen Taktik war auch dabei, erzählt Wolfgang augenzwinkernd. So setzte man auch darauf, dass die Chaoten aus Hambrücken, deren Umzug am Mittag durch Hombrigge marschiert, den beschwerlichen Weg und die überschneidende Uhrzeit scheuen würden.

Die Angst schwingt immer mit

Ohnehin achtet man mit Argusaugen darauf, dass es gar nicht erst zu jedweden Entgleisungen kommt. Der Alkoholausschank ist geregelt, schwere Fahrzeuge sind verboten, und die üblichen Bum-Bum-Wägen haben in Zeutern überdies nichts zu suchen. “Mir sinn überall” bekräftigt Margit..”Wir haben unsere Augen überall”. Trotzdem hat man auch in Zeutern immer etwas Furcht, dass die Situation aus dem Ruder laufen könnte. Volle Kontrolle über die Besucher und deren Ansinnen gibt es schließlich nirgendwo – hier gibt sich beim Umzugskomitee Zeidama Fastnacht niemand einer Illusion hin. Etwas Anspannung schwingt neben der Fröhlichkeit bei jedem aus dem Orga-Team mit.

Diese Angst ist sicher nicht unbegründet, schon mehrere Veranstaltungen im närrischen Kraichgau sind den Eskapaden kleiner Minderheiten zum Opfer gefallen. Die Nachtumzüge in Weiher, Münzesheim oder Eppingen sind längst Geschichte, besonders letzterer hat es mit bundesweiten Negativschlagzeilen zu trauriger Berühmtheit geschafft. Durch die Präsenz von Jugendschutz-Teams wurde zwar in den letzten Jahren viel Boden gut gemacht, enthemmte Grüppchen sorgen aber nach wie vor dafür, das die Fastnacht in Verruf kommt und für nicht wenige als Massen-Saufgelage gilt. Dabei will die absolute Mehrheit der Besucher einfach nur in Ruhe und Frieden, fröhlich und ausgelassen feiern, sind sich Margit und Wolfgang absolut sicher. Die Reißleine zu ziehen oder Veranstaltungen einfach zu streichen, kommt für beide daher nicht in Frage. “Ma muss sich je net alles von Minderheiten kaputt machen lassen” sagt Wolfgang und auch Margit kritisiert den einseitigen, gesellschaftlichen Fokus auf die Chaoten: “Die ham ja des Talent und fallen immer besser uff wie die Onnere”.

Die Mehrheit der Anständigen muss aktiv werden

Ohne die Vergangenheit verklären zu wollen, oder sich selbst als tugendhafte Engel hervorzuheben, geht es den beiden vielmehr um eine Rückbesinnung auf das, was eine gelungene Fasnacht ausmacht: Gemeinsamkeit und Fröhlichkeit statt Eskalation und Enthemmung. Wie man das erreichen könnte? Nur, wenn alle zusammenhalten. Wenn die Mehrheit, die Chaoten, Säufer und Randalierer in ihre Schranken weist, den verlorenen Raum und die öffentliche Wahrnehmung zurückerobert. Wegducken ist keine Lösung.

Denn ein Kraichgau ohne Fastnacht, das wäre unvorstellbar…… unvorstellbar traurig. Zweimal ist der Dämmerungsumzug in Zeutern und mit ihm viele weitere Veranstaltungen bereits ausgefallen, nächstes Jahr will Zeutern auf jeden Fall wieder feiern. Mit Wolfgang als Zugmarschall – den über 100 Jahre alten Zylinder auf dem Kopf und die geliebte Handglocke im Anschlag vorneweg und Margit mit lachenden Augen und wachsamen Blick in der Menge der fröhlichen Zuschauer. Oder wie Shirley & Lee es schon vor rund 70 Jahren gesungen haben: Come on Baby, Let the Good Times Roll.

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