Die Neun Dörfer-Stadt und das Virus
von Stephan Gilliar
Unsere Redaktion liegt geographisch genau an jener Linie, die die Stadt Bruchsal von der Stadt Kraichtal trennt. Die Garage für unser Redaktionsfahrzeug ist auf Kraichtaler Gemarkung, die Redaktion selbst gerade noch so in Bruchsal. Nach den arbeitsreichen, aber auch einsamen langen Tagen am Schreibtisch (all unsere Mitarbeiter arbeiten derzeit nur vom Homeoffice aus), gehe ich gerne noch ein bis zwei Stunden spazieren, die goldenen Strahlen der sinkenden Sonne sind am Tagesende eine wahre Wohltat für angespannte Nerven.
Dabei stehe ich immer vor der Wahl, ob ich über den Hügel nach Bruchsal wandere und dort durch den Schlosspark und die Innenstadt spaziere oder ob ich mich stattdessen Richtung Unteröwisheim oder Münzesheim wende um dort die Hohlwege und Weinberge zu durchstreifen.
Ich will ganz ehrlich sein, momentan entscheide ich mich tagtäglich für die Kraichtaler Seite. Hier schafft man es auch in diesen angespannten Zeiten noch zur Ruhe zu kommen und etwas Abstand zu gewinnen von der bedrückenden Situation rund um die weiter um sich greifende Pandemie. Während in Bruchsal leere Plätze und Straßen, hochgestellte Stühle und verrammelte Geschäfte unablässig an die Krise erinnern, vermittelt mir Kraichtal auch jetzt noch ein Gefühl von Beständigkeit und Vertrautheit.
All jene Nachteile für die Kraichtal bisher immer milde belächelt wurde, gereichen der Stadt in dieser Situation zum Vorteil. Die lose in “einer Landschaft zum Durchatmen” verteilten neun Stadtteile machen dem Virus die Ausbreitung offenbar schwer. Gerade einmal fünf aktive Infektionen erfasst der Landkreis derzeit in Kraichtal – nichtmal eine pro Dorf. Das hängt auch ein Stück weit mit der Eigenbrötelei der Menschen hier in den Hügeln zusammen – man steht füreinander ein wenn es darauf ankommt, macht aber auch gerne sein eigenes Ding. In der Werkstatt basteln, im Weinberg oder auf dem Acker schaffen…Haus und Hof sind Rückzugsorte, der Abstand zum Nachbar oft groß und für die Freizeit stehen mehr Feld, Wiese und Wald bereit, als mancher Städter in seinem Leben schon zu Gesicht bekommen hat.
Es scheint so als ob die Menschen in den Kraichtaler Hügeln so gelassen mit der Situation umgehen, wie es nur irgend möglich ist. Die Geschäfte sind selten überlaufen, und in den kleinen Warteschlangen die sich manchmal beim Dorfbäcker oder beim Metzger bilden, wird wie üblich getratscht und der neueste Klatsch ausgetauscht – derzeit eben mit zwei Meter Abstand – ansonsten aber wie immer.
Das soll nicht heißen dass die Kraichtaler flapsig oder gar fahrlässig mit der derzeitigen Situation umgehen, auch hier wird geholfen und angepackt wo es nur geht. Hinter den derzeit – wie überall im restlichen Lande auch – verrammelten Türen des Kraichtaler Rathauses, geht die Arbeit wie gewohnt weiter und sogar noch ein ganzes Stück darüber hinaus. Der eingerichtete Krisenstab tagt an jedem einzelnen Tag um auf die ständig wechselnden Erfordernisse und die jüngsten Entwicklungen der Krise reagieren zu können – auch am Wochenende ist eine solche Bereitschaft gegeben. Die Stadt hat zudem für ihre älteren Mitbürger und die Angehörigen der Risikogruppen einen ehrenamtlichen Einkaufsservice für Lebensmittel, Drogeriebedarf und Medikamente auf die Beine gestellt. Ansprechpartner für alle Fragen aus der Bürgerschaft sind telefonisch erreichbar und auf der Webseite gibt es umfangreiche Infos zu allen aufkommenden Fragen, die sich durch die Krise ergeben könnten.
Diese Informationen sind für die Bürgerinnen und Bürger jederzeit im Netz abrufbar. Auf was die Stadt aber bewusst verzichtet, ist jenes Bombardement mit News-Tickern, täglichen Presse-Updates und Status-Updates über alle Kanäle, das andere Kommunen derzeit nonstop abfeuern. Manche kritisieren diese Informationspolitik, andere wissen sie zu schätzen. Ich persönlich kann keinen Vorteil darin erkennen jeden Tag über die aktuellen Fallzahlen und Infektionen informiert zu werden – auf hügelhelden.de verzichten wir ganz bewusst darauf! Ob nun drei oder fünf Patienten mehr positiv getestet wurden, ändert an der aktuellen Situation herzlich wenig. Da sich diese Pandemie noch in ihrer Anfangsphase befindet, ist ein Anstieg der Zahlen völlig normal.
Es erschließt sich mir auch nicht wieso manche Gemeinde-Oberhäupter tagtäglich eine Mischung aus Lob, Tadel und Belehrung in die sozialen Netzwerke ergießen und andere gar Feuerwehrautos mit Lautsprecher-Durchsagen an die Bevölkerung durch die Straßen fahren lassen. Der Sog und der Lieferdruck dieser “breaking news ticker – Mentalität”, hat mittlerweile meines Erachtens nach mancherorts eine gefährliche Eigendynamik entwickelt. So weiß man etwas wohltuende Stille zwischen der Dauer-Alarmierung durchaus zu schätzen. Das unaufgeregte Modell das Kraichtal, aber beispielsweise auch die Nachbarn in Eppingen oder Ubstadt-Weiher bewusst praktizieren, gefällt mir daher ehrlich gesagt viel besser als dieses “Roter-Alarm-Gehabe”. In der Krise aber scheint die Sehnsucht so manchen Politikers – von der lokalen bis hin zur Bundesebene – nach einem ganz persönlichen “Helmut Schmidt 1962 – Moment”, exzentrische Formen anzunehmen.
“Es muss auch in der Krise weitergehen, wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen” erzählt mir Bürgermeister Ulrich Hintermayer bei einem Besuch im Rathaus. Um hinein zu kommen muss ich vor der verschlossenen Tür kurz im Büro durchklingeln, worauf der Bürgermeister nach unten kommt um aufzusperren. Bei einem Café am großen Konferenztisch mit etwa fünf Metern Abstand, müssen wir uns etwas lauter unterhalten als sonst um die Distanz auch akustisch überbrücken zu können. Während manche Rathaus-Mitarbeiter vom Homeoffice aus arbeiten, ist Ulrich Hintermayer jeden Tag in seinem Büro. “Die Prozesse hier müssen weiterlaufen, es gibt vieles zu entscheiden.” sagt der Bürgermeister und überfliegt nebenbei noch einmal die Unterlagen für die Gemeinderatssitzung am Abend. Diese wurde aus hygienischen Gründen in die große Mehrzweckhalle verlegt, damit zwischen den Tischen der Räte ein großer Abstand eingehalten werden kann. Manche von ihnen haben sich zuerst kritisch gegenüber einer persönlichen Anwesenheit geäußert und im Vorfeld für eine Abstimmung per E-Mail plädiert, davon aber will Ulrich Hintermayer nichts wissen. “Es gibt wichtige Angelegenheiten zu entscheiden, die unmittelbare und intensive Diskussionen erfordern”, so Hintermayer. “Außerdem ist es den Menschen nur schwer vermittelbar wieso zum Beispiel Kassiererinnen im Supermarkt jeden Tag nur von etwas Plastikfolie geschützt, hunderten von Menschen begegnen sollen, aber gewählte Räte trotz maximaler Schutzvorkehrungen dazu nicht bereit sind”.
Es sind schwierige Zeiten die das Hügelland gerade durchlebt, ein Flug auf Sicht ist zwangsgedrungen gerade der einzige gangbare Weg – wenngleich auch für viele ein unbefriedigender. Die Menschen sehnen sich nach guten Nachrichten und nach einer baldigen Rückkehr zur Normalität. Im täglichen Overkill der Nachrichtenflut versuchen Sie solche Strohhalme zu finden und zu ergreifen – das ist nur menschlich und verständlich.
Unendlich wichtig, ist es sich aber auch jederzeit vor Augen zu führen, dass das Leben weiter geht. Nicht nur im Kraichtaler Rathaus sondern überall in den Ratsstuben, Ministerien und Plenarsälen dieses Landes wird weitergearbeitet, regiert und reagiert so gut es eben geht. Dass das Gras aber eben nicht schneller wächst, nur weil man daran zieht, weiß man in den Kraichtaler Hügeln nur zu gut. Deswegen machen die Menschen weiter, so gut es in dieser Situation eben geht. Stoisch, gelassen, manchmal ein bisschen bockig und bruddlig aber meistens voller Hoffnung. Jammern hilft halt ned – weidermache, werd scho widda!