“Ich fühle mich hier wie ein Gespenst”

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Früher verließen Tag für Tag tausende, handgemachte Kleidungsstücke die florierende Fabrik der Häuslers in Bruchsal, heute versinkt die einstige Zierde des deutschen Wirtschaftswunders langsam in Vergessenheit

Matt fällt das Licht der Nachmittagssonne durch die verstaubten Fenster des massiven Fabrikgebäudes in der Durlacher Straße Nummer 82. Bleierne Stille lastet auf den riesigen, verlassenen Räumlichkeiten, deren hintere Ecken nur vage im Dämmerlicht auszumachen sind. Schon vor langem begann die einstige Manufaktur für Sport- und Lederbekleidung allmählich auszubluten, die letzten Näherinnen verließen die Fabrik vor über 20 Jahren. Die Menschen mögen gegangen sein, doch alles andere ist noch hier… die unzähligen, schweren Nähmaschinen aus Gußeisen, die verwaisten Schreibtische, die hölzernen Färbetrommeln und sogar der alte Fernschreiber der Buchhaltung. Dazwischen Stoffe, Lederreste, alte Kataloge und sogar Knöpfe, die früher die schweren Mäntel der deutschen Marine zierten.

Zwar ist Johann Emil schon vor langem gestorben, die Fabrik in Bruchsal längst verstummt, doch noch immer ist ein Häusler hier anzutreffen. Ralph Häusler, Enkel des Firmengründers, hat sich inmitten der Überreste des einstigen Imperiums eine kleine Ecke eingerichtet, die wie ein letztes Stück Grün im ansonsten braun gewordenen Blattwerk des knorrigen Gerippe der alten Fabrik wirkt. Neben einer Nähmaschine steht ein moderner Computer im Lichtkegel der Schreibtischlampe, zwei Sinnbilder für Ralphs ungleiche, berufliche Laufbahnen. Denn der heute 55-Jährige war nicht nur Pionier in der Gestaltung der allerersten Webseiten des damals noch jungen Internets, sondern ist auch gelernter Bekleidungsschneider, ausgebildet im großelterlichen Betrieb in Bruchsal.

Stockwerk für Stockwerk hat diese Zeitkapsel konserviert, was sich hier vor langer Zeit zugetragen hat: Aufstieg und Blüte einer Bruchsaler Legende: “Haelson”. Der Name leitet sich vom Nachnamen des Firmengründers Johann Emil Häusler und dem seiner Nachfahren ab… so wurde aus Häusler und Söhne irgendwann das eingängige “Haelson”.

Dessen Geschichte nahm ihren Anfang vor über 100 Jahren in der Stadt Trautenau im damaligen Sudetenland. Ralphs Großvater Johann stellte hier Wetterschutzbekleidung her, wie Regenmäntel, Überhosen für Motorradfahrer aber auch schwere Ledermäntel. Nach der deutschen Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkrieges und dem damit einhergehenden Verlust der Ostgebiete, wurde Johann Emil Häusler enteignet und aus der Heimat vertrieben. Gemeinsam mit seiner Frau Anna kam er in einem Hotel in Zeutern unter und begann von hier aus den Aufbau einer neuen beruflichen Existenz. Er erwarb einen alten Güterwaggon voller Stoff- und Lederreste, bezahlte Frauen aus dem Dorf dafür, daraus auf den eigenen Nähmaschinen zuhause Hosen für Kinder herzustellen.

Der Neustart gelang, die Hosen verkauften sich wie das sprichwörtliche geschnitten Brot. Nur fünf Jahre nach seiner Ankunft in Zeutern erwarb Johann dann eine alte Tabakfabrik in der Durlacher Straße in Bruchsal, die bis auf das erste Stockwerk fast vollständig ausgebombt war. Stück für Stück baute er hier ein Unternehmen auf, dessen Kleidungsstücke nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und dem Rest der Welt reißenden Absatz fanden. Motorradjacken mit Rallyestreifen, Lederhosen und auch Sportbekleidung aus Leder waren die Verkaufsschlager, die zur Blütezeit jeden Tag tausendfach die Fabrik in der Durlacher Straße verließen, hergestellt von weit über 100 Näherinnen. “Haelson” prosperierte derart, dass sogar weitere Fabriken in Neuthard und Heidelsheim eröffnet wurden um der reißenden Nachfrage gerecht zu werden.

1969 starb Johann Emil, worauf dessen Sohn Hans Häusler die Geschicke des Unternehmens in die Hände nahm. Während die 70er Jahre noch unter einem guten Stern verliefen, begann selbiger danach langsam aber stetig zu sinken. Vielleicht war es der Zeitgeist, vielleicht die schleichende Verlagerung der deutschen Modeindustrie ins Ausland, vielleicht auch das weniger glückliche Händchen von Hans im Vergleich zu seinem Vater…doch ab den 80er Jahren begann allmählich der Niedergang. Immer weniger Kleidungsstücke verließen die Bruchsaler Fabrik, immer weniger Hände arbeiteten an deren Herstellung. 2003, in jenem Jahr, in dem Anna Häusler das Zeitliche segnete, endete auch die Produktion in Bruchsal. Die letzten beiden Näherinnen von einst ursprünglich über 120, nahmen ihren Hut und in der Durlacher Straße Nummer 82 gingen die Lichter aus.

Auch Hans Häusler ist zwischenzeitlich verstorben und so gibt es nun nur noch Ralph, der sein ganzes Leben in den schweren und nun stillen Mauern verbracht hat. Schon als kleiner Junge hat er hier dem Großvater und später dem Vater über die Schulter geschaut, zugehört, gelernt und seine eigenen Ideen und Designs auf dem Reißbrett erschaffen. Doch der Vater, den Ralph meist als schwierigen und unnahbaren Mann kennengelernt hat, brachte dem Sohn keine Wertschätzung entgegen, verwarf brüsk dessen Vorstöße und Ideen. So verlegte sich Ralph zunehmend auf die Arbeit mit dem Computer, die peut a peut jene mit Nadel, Faden und Schere verdrängte.

Jedoch blieb er immer hier… der alten Fabrik und vielleicht auch dem Schatten des Vaters verhaftet, gefangen zwischen dem schwergewichtigen Erbe der Familie und den eigenen Wünschen, der eigenen Zukunft. Es ist ein innerer Kampf, den man dem feinsinnigen, kreativen und ruhigen Mann fast anzusehen glaubt, wie er da in den verstummten, in der Zeit erstarrten Überresten des familiären Vermächtnis verharrt. Auf seinem Schreibtisch liegt ein ganzer Stapel Visitenkarten von Investoren, die ihm das weitläufige Werksgelände mit seinen massiven Gebäuden sofort mit Kusshand versilbern würden…fürstlich sogar. Doch Ralph will nichts überstürzen, den Prozess des Loslassens in Achtsamkeit erleben, auch wenn seine Gefühle, wenn er so alleine durch die alten Mauern schlendert, oft diffus sind.” “Ich fühle mich hier oft wie ein Gespenst” sagt er und weigert sich dennoch den letzten Funken Leben der alten Bekleidungsfabrik, wie den glimmenden Docht einer Kerze auszudrücken. Noch verkauft er hier Stoffe, bietet Nähkurse an… doch spätestens in 10 Jahren soll auch damit Schluss sein. “Dann bin ich 65, dann soll es gut sein” sagt Ralph, für den sich die stumme Fabrik mit ihrem stillen Innenleben auch oft wie eine schwere Bürde anfühlt.

So wird in den Fenstern des alten, steinernen Monoliths in der Durlacher Straße auch noch in den kommenden Jahren ein einsames Licht leuchten, bis der letzte seiner Art es ausbläst und Frieden findet – man würde es ihm wahrlich wünschen.

Dieser Beitrag erschien erstmals im Sommer 2022

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3 Gedanken zu „“Ich fühle mich hier wie ein Gespenst”“

  1. Bei Haelson gab es bezahlbare, sehr gute Qualität. Ich habe mir mal eine Lederhose dort nähen lassen. Schade, dass die alten Handwerksbetriebe langsam aussterben und auch das Fabrikgebaeude nicht wieder mit neuem Leben erfüllt ist. Die Kulisse wuerde sich für viele kreative Künstler geradezu anbieten.

  2. Meine Schwägerin war hier Büroangestellte und hat sich bei Johann Emil Häussler im Betrieb sehr wohlgefühlt.Wie sie immer sagte, er war ein sozialeingestellter Chef. Ich selbst habe dort auch gerne eingekauft.Sein Sohn
    Hans hatte dies alles genossen, war leider aus „einem anderen Leder“.
    Häussler-Haelson war ein Begriff! Tolle Firma!

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