Er hat mit den Großen gespielt und doch das Kleine nie verleugnet. Mit 92 Jahren steht die Bruchsaler Legende Joe Brunner noch immer aufrecht und uns zur Ehre Rede und Antwort
Wer das Musikhaus Brunner am Bruchsaler Kübelmarkt betritt, der findet sich inmitten einer Zeitblase wieder, die hartnäckig einfach nicht platzen möchte. Während draußen die Zeit Geschäfte, Märkte, Restaurants, Cafés und all die Menschen, die dazu gehören, mit sich fort trägt, ist der kleine Laden an der Ecke über all die Jahrzehnte hinweg das Auge des Sturms geblieben. Hier drinnen könnte es noch 1990, 1980 oder eher 1970 sein, lediglich das kleine Kartenlesegerät ist ein Zugeständnis an die Neuzeit. Ansonsten stumpf gewordenes, braunes Resopal, ein mattes Orange an den Wänden und ein abgenutzter Teppich auf dem Boden. Der Blick schweift über Kartons und Kisten, die sich bis zur Decke hinauf stapeln, über unzählige kleine und große Schubladen und selbstredend jede Menge Instrumente. Hier reihen sich Klaviere dicht aneinander, hängen perlmutglänzende Gitarren an den Wänden, funkeln Trompeten in der Vitrine und stehen Metronome, Notenbücher und Mundharmonikas Seite an Seite.
Hinter der kleinen Verkaufstheke, auf der sich Papiere und allerlei Krimskrams stapeln, sitzt das Herz und die Seele dieser musikalischen Wunderkammer. Das Haar ist schon lange schlohweiß, doch der Blick so wach und klar wie eh und je. Mit 92 Jahren steht Armin Brunner, den alle nur “Joe” nennen, noch immer in seinem kleinen Laden, zieht neue Saiten auf Gitarren, verkauft Blockflöten oder repariert liebgewordene Instrumenten-Schätze. Seinen Spitznamen hat er in einer Zeit erhalten, an die sich insbesondere die jüngeren Leserinnen und Leser kaum noch erinnern können, liegt sie doch weit vor ihrer Geburt. Damals spielte Armin Schlagzeug, nicht selten die ganze Woche, Nacht für Nacht, immer in den großen Clubs der amerikanischen Stützpunkte, vor einfachen GI´s aber auch in den Casinos der Offiziere. Weil sich die Amerikaner seinen Vornamen nur schwer merken konnten (oder wollten) verpassten sie dem drahtigen Burschen an den Drums kurzerhand den Namen “Joe”, der ihn bis zum heutigen Tag begleitet.
Joe führte damals ein wildes Leben, die Nacht war sein Tag, die Straße sein Zuhause. Ständig spielte er irgendwo anders, tourte mit seiner Combo durch ganz Europa. In die Wiege gelegt war ihm dieses Schicksal fürwahr nicht, eigentlich entstammt Armin einer ganzen Dynastie aus Lehrern und Schulmeistern. Geboren wurde er 1931, in jenem Jahr, als Deutschland von der Weltwirtschaftskrise bis ins Mark erschüttert und in New York das Empire State Building eröffnet wurde. Armin kam im Egerland zur Welt, in einer Region, die heute zu Tschechien gehört. Sein Vater war, wie auch dessen Vater und Großvater, Lehrer an einer örtlichen, deutschsprachigen Schule. Als Österreich sich Ende der 30er Jahre dem Deutschen Reich anschloss, nahm die Familie eine Wohnung in Linz. Kurz darauf wurde sein Vater zum Kriegsdienst herangezogen, die Mutter zog zurück in die egerländische Heimat. Für die Wehrmacht war Armin damals noch zu jung, an den Krieg kann er sich dennoch lebhaft erinnern. Besonders an jene Tage, als der dunkle Himmel und das unheilvolle, rot glühende Inferno der brennenden Städte sich wie das Ende der Welt für den Jungen anfühlten.
Sein Vater, der während dem Dienst in einem Baubataillon bei Saarbrücken verletzt wurde, kehrte schließlich aus dem Krieg zurück, die Familie verließ das Egerland dann noch bevor die große Vertreibungswelle ihren Lauf nahm. Man meldete sich zur Aussiedlung nach Deutschland, wurde schließlich nach Wochen mit einem Güterwaggon nach Karlsruhe gebracht. Von dort aus ging es weiter nach Graben und schließlich nach Bruchsal. Armins Vater unterrichtete zuerst in Schwetzingen, später am Justus-Knecht-Gymnasium, Armin selbst besuchte das Kant-Gymnasium in Karlsruhe. Noch während seiner Zeit dort rief ihn die Musik immer mehr und so brach er schließlich die Schule noch vor dem Abitur ab und wechselte an die Musikhochschule. Sehr zum Ärger des Vaters, der die Entscheidung des Sohnes nicht akzeptieren konnte. “Er war nicht begeistert, um es mal zurückhaltend zu formulieren“, lacht Armin.
Doch Armin hatte immer nur Musik im Kopf, verdiente sich seit seinem 16. Geburtstag als Trommler in einer Tanzmusikgruppe ein Taschengeld dazu. Gänzlich besiegelt wurde sein Schicksal, als er eines Tages in der Musikerzeitung “Der Artist” eine Annonce einer Soldaten-Band in Bamberg entdeckte, in der zum nächstmöglichen Zeitpunkt ein Schlagzeuger gesucht wurde. Armin, damals zarte 21 Jahre alt, bekam die Stelle und sein Leben wurde völlig auf den Kopf gestellt. Statt bürgerlicher Routine bestimmte das wilde Dasein eines Musikers nun seinen Alltag. Mit den paar Mark, die er im Monat verdiente, nahm er sich ein kleines Zimmer, aß in günstigen Restaurants für 40 Pfennige pro Mahlzeit, um über die Runden zu kommen. Es folgten sieben Monate, in denen Armin jede Nacht viele Stunden lang am Schlagzeug saß, während um ihn herum geraucht, getrunken und getanzt wurde.
Nach 7 Monaten kehrte er schließlich in die Heimat zurück, akzeptierte ein Arrangement mit dem Besitzer des “Papa Clubs”, einem Varieté-Tanzlokal im heutigen Karlsruher Passage-Hof. Von 20 Uhr am Abend bis 4 Uhr am Morgen spielte Joe die Drums, ohne müde zu werden. “Ich bin in dieser Zeit eine echte Nachteule geworden“, grinst er und seine dunklen Augen blitzen bei der Erinnerung an seine wilden Jahre sichtbar. Es war eine schöne Zeit, aber der damalige Deal war mehr als lausig. Heiligabend beispielsweise wurde den Musikern einfach vom Lohn abgezogen, obwohl der Club aus bekannten Gründen nicht öffnen konnte. Zum Ausgleich für die mickrige Gage gab es in der Eule-Bar im Untergeschoss des Clubs Bier und Würste für den schmalen Taler, ein schwacher Trost. So kehrte Joe schließlich Karlsruhe den Rücken, ließ sich von einer Agentur wochen- und monatsweise für Arrangements in andere Städte vermitteln. Schlager, Jazz, Big Band und Rock n‘ Roll standen jeden Tag auf der Agenda und Joe mit damals großen Namen Seite an Seite auf der Bühne. Roy Black, Johannes Heesters, Peter Kraus, Bill Ramsey oder Roberto Blanco – Joe kannte sie alle.
So zogen die Jahre, die Auftritte, Länder, Clubs und die Bühnen des Kontinents vorüber. Von Bedeutung sollte Joe’s Station in Garmisch-Partenkirchen anno 1954 werden, wo er in einem Hotel seine Hedi kennenlernte. Die beiden verliebten sich, heirateten und nur kurze Zeit später brachte Hedi ihr erstes gemeinsames Kind, den kleinen Peter zur Welt. Joe blieb jedoch weiter auf Achse, irgendwie musste für die junge Familie schließlich Geld hereinkommen. So hüteten die Schwiegereltern Peter, während der Papa Nacht für Nacht Musik machte. Als mit Uwe das zweite Kind das Licht der Welt erblickte, war Joe und Hedi klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Die räumliche Trennung bekam niemandem wirklich gut. So begannen sie ein Abenteuer, dass man neudeutsch heutzutage wohl als “Vanlife” bezeichnen würde. Die Brunners kauften sich einen Campingwagen und reisten mit Kind, Kegel und Kollegen von Auftritt zu Auftritt, von Arrangement zu Arrangement. “Wir hatten keine 10 Quadratmeter, aber wir waren glücklich“, erzählt Armin alias Joe, als er sich an diese Zeit erinnert. “Aber als die Kinder schulpflichtig wurden, musste es enden”.
So kehrte Armin mit seiner Familie nach Bruchsal zurück, mietete sich am Kübelmarkt einen ehemaligen Pfannkuch-Lebensmittelladen, eben jenes Lädchen, das es bis zum heutigen Tage gibt. Er verkaufte Musikalien, gab Musikunterricht und spielte selbstredend weiterhin in der nach ihm benannten “Joe Brunner Band”, die von 1970 bis 1993 in der Region und darüber hinaus bekannt und unterwegs war. Man kann sich leicht ausrechnen, dass die 24 Stunden eines Tages für Joe in jener Zeit kaum ausreichten, um alles unter einen Hut zu bekommen. “Man muss sich vorstellen, ich war von meinem 16. Lebensjahr an nie wieder Silvester zu Hause, immer habe ich gespielt, das ging so bis 1993”. rechnet er vor und legt die Stirn kraus. “Wenn ich eines bedauere, dann so wenig Zeit für die Familie gehabt zu haben”. Grob um die Zeit der Jahrtausendwende treffen Armin gleich mehrere, familiäre Schicksalsschläge. “Damals habe ich immer gesagt, nächstes Jahr lebe ich nicht mehr“, sinniert Armin und fügt hinzu: „Was daraus geworden ist, sieht man ja”.
Ja, das sieht man. Noch immer steht Armin “Joe” Brunner Tag für Tag in seinem kleinen Laden am Kübelmarkt, schlägt immer noch die Trommeln bei der Bruchsaler Stadtkapelle und das obwohl er dieser Tage seinen 92. Geburtstag feiert. Während andere über die Rente mit 70 diskutieren, steht er 22 Jahre nach diesem Stichtag immer noch mitten im Berufsleben. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob er nicht langsam einmal aufhören möchte? “Ich sollte eigentlich“, sagt er, „aber ich weiß nicht wie”. Eine große Frage, deren Antwort so komplex wie Joes Leben selbst ist. Da wäre zum einen die Tatsache, dass Joe das Schicksal so vieler freier Künstler und Musiker teilt, die große Teile ihres Lebens mit losen Arrangements und kleinen Gagen verbracht haben, für die die Rentenkasse des deutschen Staates nur ein müdes Lächeln übrig hat. Sicher spielt aber auch die lebenslange Rastlosigkeit und der unruhige Geist Armins eine Rolle, der sich einfach nicht vorstellen kann, einfach nur reglos in einem Sessel zu sitzen. Die Fliehkräfte eines bewegten Lebens wirken eben lange nach.
So ist es durchaus eine realistische Möglichkeit, dass eines Tages in seinem kleinen Laden am Kübelmarkt für Joe der letzte Vorhang fällt. “Das schreckt mich nicht“, sagt er und lacht sein herrliches Lachen, das jede Falte in seinem fröhlichen Gesicht in Bewegung setzt. Man kommt nicht umhin, lacht mit ihm und freut sich, ihn kennengelernt zu haben, dieses Unikat, diesen besonderen Menschen, auf den Bruchsal mit Fug und Recht stolz sein kann. Armin, der Trommler, oder auch – Für immer Joe!
Joe, weiter so!!!
Und bleib gesund!!!
De Mussich-Brunner!! Für wahr, ein echtes Original. Selbst im hintersten Eck von Bruchsal war er bekannt. Ein älteres bzw gleichaltriges Geschäft wird man in Brusl nicht mehr finden. Tolle Geschichte! Chapeau Joe und alles Gute
Wirklich ein toller Bericht über das Lebens echten Bruchsaler Original. So etwas findet man selten. Danke Hügelhelden. so muß es sein und das zeichnet euch aus!! NEIN, kein Süßholzgeraspel nur meine Meinung.
Tausend Dank!!!
Welcher Laden ist den jetzt älter? Uhren Schmidt oder Musik Brunner?
Ja ,so ischer, der Armin Brunner.Ein „Urgestein“ in Bruchsal. Kenne ihn seit Jahrzehnten.Ein sehr liebenswürdiger Mensch.
Welch liebenswerter Artikel über einen liebenswerten Mensch mit liebenswertem Laden!
Einzigartig!