Vor 33 Jahren kam Jörg Herrmann aus Berlin zum ersten Mal in die Bruchsaler Kultkneipe “Holländer” – Heute ist er immer noch dort
Es war auf den Tag genau ein Jahr vor der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, als Jörg Herrmann und ein paar Freunde aus Berlin-Treptow in den Westen “rüber machten”. Am 3. Oktober 1989, nur kurze Zeit nach der historischen Rede Hans-Dietrich Genschers vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag, schaffte Jörg über Ungarn seinen Sprung in den Westen. Zusammen mit ein paar Kumpels aus der Heimat, wurde er im Anschluss auf dem Gelände der Bruchsaler Bereitschaftspolizei untergebracht, damals provisorische Sammelstelle für Alleinstehende aus dem Osten.
Auch wenn das eigentlich niemals seine Absicht war, blieb Jörg Herrmann in Bruchsal “kleben”. Was ursprünglich nur für höchstens drei Jahre vorgesehen war, hält mittlerweile seit über 33 Jahren. Die Bruchsaler dürfte das freuen, haben sie doch mit Jörg den Kult-Barkeeper schlechthin gewonnen, der mit dem “Holländer” eine der letzten ureigenen Kneipen-Instanzen der Stadt führt.
In den Holländer hat sich Jörg vom ersten Abend an verliebt. Schon als er noch bei der Metzgerei Sack und beim Eisen Bärle sein Geld verdiente, war er regelmäßiger Stammgast in der damals noch jungen Kneipe. 1987 gründete das Mutter-Tochter Team Coby und Steffi den Pub in der Pfeilerstraße – weil beide aus Holland stammen, gaben sie ihm kurzerhand den Namen “Holländer”. Für Jörg war der verwinkelte Gastraum wie ein zweites Wohnzimmer – an der langen, dunklen Bar oder im kleinen Irish Pub ein Stockwerk darüber, fühlte er sich wie zu Hause.
Irgendwann machte er quasi sein Hobby zum Beruf und half als Barkeeper zwischen 1995 und 1997 an der Theke des Holländers aus. Schon damals war die Kneipe einer der großen Hotspots der Stadt. Besonders die Pub-Atmosphäre lockte die vielen Gastarbeiter aus Großbritannien, die damals in der Stadt arbeiteten, regelmäßig in die Pfeilerstraße. Weil Steffis Lebenspartner aus Irland kam, war der Holländer einer der ersten Irish Pubs der Stadt, hier flossen Guinness, Brown Ale und Cider in Strömen.
1997 bot sich die Gelegenheit den Holländer zu übernehmen, eine Chance die Jörg sofort beim Schopfe packte. Gemäß dem Motto “never change a running system”, änderte Jörg am bewährten Konzept des Pubs so gut wie gar nichts. Noch heute gibt es hier Bier und Cider von der grünen Insel und dazu noch dutzende weitere Biersorten mehr. Auf seine Bierkarte ist Jörg ohnehin besonders stolz, darauf finden sich Spezialitäten, die man weit und breit sonst nirgendwo findet. Wer will kann sich hier durch eine Kombination aus acht Bieren arbeiten und so sein Bierdiplom erwerben. Dazu gibt es die typischen Kneipen-Snacks, wie beispielsweise die Baguettes mit jener grell orangenen Soße, gegen deren Flecken bis zum heutigen Tag noch kein Mittel erfunden wurde. Der echte Renner ist aber Jörgs original Berliner Currywurst, auf die der Treptower nichts kommen lässt: Viereckig, ohne Darm und mit Hausmacher Soße – So und nicht anders, landet sie im Holländer auf dem Teller.
Auch wenn er gerne etwas mehr Zeit in der alten Heimat verbringen würde, zeitlich ist das für Jörg einfach nicht drin. Jeden Tag steht die bekennende Eule bis in die Puppen hinter dem Tresen, am Wochenende kommt er erst dann ins Bett, wenn draußen die Vögel zu singen beginnen. Wenn aber in Bruchsal die Straßenlaternen angehen, dann beginnt seine Zeit. Das Stimmengewirr der Gäste, das Klirren der Gläser, das Gelächter und die Musik – Jörg ist Barkeeper aus Leidenschaft. Diese Mischung hat ihm in den acht Wochen der zwangsweisen Schließung während der Corona-Ouvertüre besonders gefehlt, zumindest hat ihnen die Zwangspause finanziell nicht allzu sehr geschröpft. Als einer der wenigen Wirte im Lande, kam er in den Genuss einer tatsächlich für die Ausfälle gerade stehenden Versicherung, wie man hört, keine Selbstverständlichkeit.
Mittlerweile hat sich der Alltag im Holländer wieder einigermaßen stabilisiert, die Gäste haben den Weg zurück an Jörgs Tresen gefunden. Im Sommer sitzen viele von ihnen ohnehin lieber im kleinen Biergarten – zumindest die, die es schaffen zu später Stunde einigermaßen leise zu bleiben. “Die Lauten holn wa dann rin” erzählt Jörg lachend in seinem breiten Berliner Akzent. “Mit den Nachbarn versteh ick mir jut”. Mit dem alltäglichen Trubel im Holländer kann der erfahrene Wirt gut umgehen, nur eine Kleinigkeit ging im irgendwann auf den Geist. Weil alle Gäste wild auf dem Klavier in der Ecke herumklimmperten, hat Jörg irgendwann den Deckel mit Schrauben zugespaxt – dreihundert mal den Flohwalzer am Abend in unterschiedlichen Qualitätsstufen zu hören, das macht der stärkste Mann nicht mit.
Wie es für ihn und den Holländer weitergehen soll, wollen wir schließlich noch von Jörg wissen? Eigentlich hatte er sich schon mal eine Deadline gesetzt, aber die ist bereits vor zehn Jahren verstrichen, erzählt er schließlich. Mit einem Herzinfarkt hinter dem Tresen enden, das möchte er aber auch nicht. So etwas hat er bereits bei einem Bekannten in Maastricht erlebt und auch der jüngste Todesfall eines langjährigen Bruchsaler Wirts-Kollegen, hat den 54-Jährigen nachdenklich gemacht. Vom Aufhören will Jörg aber noch lange nichts wissen. Auch wenn das Publikum sich über die Jahre hinweg verändert hat, steht er doch nach wie vor für sein Leben gerne hinter der langgestreckten, dunklen Bar unter den schummrigen, gelben Laternen und neben der gütig drein blickenden Christusstatue.
Nicht wenige seiner Gäste sind den ganzen Weg gemeinsam mit ihm gegangen. “Manche von denen waren junge Kerle und ham jetzt keine Haare mehr ufm Kopp” sagt Jörg und fährt sich mit der Hand über seine ebenfalls stark zurückgegangen Haarpracht. Kult verpflichtet eben, Geschichte ebenso! Vielleicht abgesehen von Ute und ihrer Bierbrezel, gibt es keine altehrwürdigere Institution in der Bruchsaler Kneipenszene, als den Holländer. Bleibt zu hoffen, dass die letzte Runde, hier noch sehr lange auf sich warten lässt.
(erschienen erstmals im Sommer 2020)