Ein O-Loch vom A-Loch

|

Foto by @billyves12 via Twenty20

Warum das Ohrlochstechen bei Babys und Kleinkindern einfach nur dämlich und falsch ist

Eine Kolumne von Tommy Gerstner

Das Schöne (und davon gibt es nicht sonderlich viel) am Älterwerden, ist die fortschreitende Ausprägung einer herrlich entspannenden “Scheiß drauf” – Haltung. Man könnte es etwas besonnener auch als Gelassenheit bezeichnen, die Fähigkeit auch mal fünfe gerade sein zu lassen und sich nicht mehr über alles zu echauffieren. Neulich fand ich mich aber unverhofft in einer Situation wieder, die mir sowohl das Fressbrett als auch das Messer in der Tasche haben aufklappen lassen.

Ich war gerade beim Juwelier in einer badischen Großstadt zugange, um meine treue alte Wanduhr endlich um den super-nervigen viertelstündlichen Glockenschlag zu erleichtern, als eine Kaugummi kauende junge Mutter in pink-weißem Camouflage gekleidet hereinspazierte. Auf dem Arm trug sie ein kleines Mädchen, dass ich auf maximal zwei Jahre schätzen würde. Das Alter der Mama konnte ich nicht genau taxieren, ich gehe aber von einer erfolgreichen Zeugung noch vor dem Erwerb eines wie auch immer gearteten Schulabschlusses aus.

Mit dem dösenden Kind auf dem Arm verschwindet Mami also nach kurzer Begrüßung hinter einem halbhohen Vorhang in einem Nebenraum. Unter dem Vorhang hindurch kann man sehen wie Lolita ihren Spross auf dem Schoß fixiert und eine zweite Person an das Duo herantritt. Nach kurzer Zeit ertönt ein knappes und schnelles Klacken und eine halbe Sekunde später das gellende Gebrüll des kleinen Mädchens. Man muss nicht Miss Marple oder Sherlock Holmes sein, um zu erahnen was gerade passiert ist: Big Miss Sunshine hat Little Miss Sunshine gerade das Ohrläppchen perforieren lassen… Ich musste mich aufs heftigste konzentrieren, Kotze und Galle wieder herunter zu schlucken.

Foto by @billyves12 via Twenty20

Rein rechtlich gesehen hat unsere mamacita fatal nichts falsch gemacht, in Deutschland gibt es kein Mindestalter für das Ohrlochstechen bei Kindern. Die Einverständnis der Eltern vorausgesetzt, kann das fröhliche Gemetzel bereits im Säuglingsalter beginnen. Moralisch und pädagogisch gesehen hingegen, ist das Durchstechen der Ohrläppchen bei Kleinkindern einfach nur erbärmlich und ein riesiger Haufen dampfender Bockmist. Selbst wenn das ganze, was nicht überall selbstverständlich ist, hygienisch und technisch korrekt durchgeführt wird, können die kleinen Zwerge und Mäuse durchaus ihr höchstpersönliches Trauma mit nach Hause nehmen, inklusive des Vertrauensverlustes gegenüber den Eltern. “Juhu, Mama hält mich fest damit mir dieser Fremde Schmerzen zufügt, jetzt liebe ich sie umso mehr… “ Is klar, nee?!

Ohne auch nur im Mindesten eine Legitimation dafür zu haben, wird intaktes Körpergewebe durchstochen und das eigene Kind bewusst und im Vollbesitz der geistigen Kräfte (muss ja nicht viel davon vorhanden sein) verletzt. Warum sollten Eltern ihrem eigenen Nachwuchs so etwas perverses antun?

Damit kommen wir auch zur wesentlichen Frage – dem im Raum stehenden “Warum verdammte Scheiße noch einst, macht Ihr das?

Laut Internetrecherche argumentieren viele Mütter damit, dass das Ohrlochstechen damit gleich zu Beginn erledigt ist und die Kinder und spätere Jugendliche dankbar sein können, dieses Ritual bereits hinter sich gebracht zu haben. Das ist natürlich Bockmist, medizinisch macht es keinen Unterschied das Ohrläppchen mit 2 oder mit 92 Jahren zu durchlöchern. Der mutmaßlich wahre Grund ist sehr viel ernüchternder, es geht einzig und allein nur um das Ego der Mütter. Ein Baby braucht kein Ohrloch, fühlt sich damit nicht schöner oder begehrenswerter und verspürt – Gott sei lobend Dank – kein Bedürfnis beim Schönheitswahn seiner adoleszenten Artgenossen mitzumischen. Vielmehr kommen viele Babys in den zweifelhaften Genuss eine Art lebendes Accessoire ihrer mehr oder minder modebewussten Muttis zu sein. Da werden Kinder frisiert, gestylt, modisch ausstaffiert und mit lackierten Fingernägeln oder eben auch durchstochenen Ohrläppchen zur Schau gestellt – gerne auch großformatig auf der Timeline ihrer Erzeuger in den sozialen Medien.

Dass Kinder auch gewisse Rechte haben, wenngleich diese in diesem Bereich juristisch leider nur unzureichend definiert sind, wird dabei gerne vergessen. Vielleicht möchte das kleine Mädchen irgendwann einmal selbst entscheiden ob es intakte Ohrläppchen haben möchte oder ob die eigenen Bildnisse unwiderruflich im World Wide Web landen? Gerne vergessen viele Eltern den grundlegenden Fakt, dass Kinder nicht ihr Eigentum sind und ein Recht auf körperliche Unversehrtheit besitzen! Und ja, dieses beginnt bereits bei ihren rosig weichen Ohrläppchen. Das gern genommene Argument, die Ohrläppchen verheilten schließlich schnell wieder, gilt dabei imho nicht. Oder darf ich Ihnen jetzt ein Messer in den Oberschenkel rammen – das heilt schließlich auch irgendwann wieder… ich schwör!

Wobei, cher Elterinos, wenn ihr gerade schon dabei seid, könnte man ja gleich noch eure Namen, kombiniert mit ein paar super trendy keltischen Symbolen, der kleinen Maus auf das speckige Ärschlein tätowieren lassen. Hey, warum nicht? Oder wie wäre es mit Permanent Make-Up und einem geilen Zungen-Piercing? Das kann man einem Kleinkind doch nicht antun finden Sie? Ganz genau, ebenso wenig wie das das gewaltsame Durchstoßen des Lobulus auriculae – auch bekannt als Ohrläppchen.

Mit dieser Meinung steht der alte Tommy übrigens nicht alleine da. Nach einem Gerichtsprozess, der einem dreijährigen Mädchen 2012 in Berlin ein kleines Schmerzensgeld bescherte, stellte der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Wolfram Hartmann in der FAZ fest: “Ohrlochstechen ist aus unserer Sicht eine Körperverletzung und ebenso ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes wie die Beschneidung”. Bäng! Word!

Es ist doch nun mal so…. mal abgesehen von der Egozentrik und dem Narzissmus mancher Mütter und Väter, gibt es absolut keine Argumente um Kindern – die selbigen Vorgang weder begreifen noch verarbeiten können – gewaltsam die Ohrlöcher durchstechen zu lassen.

Ganz anders sieht die Sache natürlich bei den Mamis und Papis selbst aus, hier ist bei den “body modifications” keine Schmerzgrenze gesetzt. Toben Sie sich ruhig aus, werte Löcher-Liebhaber. Lassen Sie sich den Penis spalten, Hörner auf die Stirn implantieren, die Unterlippe mit einem Pizza-Teller aufweiten, Antennen auf den Kopf schrauben, zwei Dosen Faxe an die Arschbacken tackern und wenn Sie wollen – Ihr geliebtes Smartphone gleich noch an die Ohren löten…. Machen sie das alles gerne, doch lassen sie ihre Kinder so lange in Ruhe, bis diese sich für oder gegen diesen Schwachsinn selbst entscheiden können.

Schreibt es ihnen hinter die perforierten Ohren…. Tommy Gerstner (ca. 6 Löcher – alle natürlich gewachsen)

Vorheriger Beitrag

Karlsbad: Klein-Lkw-Fahrer bei Auffahrunfall schwer verletzt

Neuer Spielplatz in Hoffenheim eingeweiht

Nächster Beitrag