Ein bewegtes Leben

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Kurt Emmerich aus Eichelberg ist mit seinen 90 Jahren eines der klügsten, liebenswertesten, vielfältigsten und begabtesten Unikate unseres Hügellandes – wenn er das doch nur auch wüsste..

Ein heißer Sommernachmittag im verschlafenen Dörfchen Eichelberg. Im Dachgeschoss des kleinen Klinkerbaus in einer Stichstraße am Ortsrand, sitzt mir gegenüber Kurt Emmerich. Neunzig Jahre alt ist er im April geworden, das sorgfältig gescheitelte Haar ist längst schlohweiß, das Gesicht von scharfen Falten gezeichnet. Und dann sind da seine Augen, klar, leuchtend, durchdringend – die Fenster eines hellwachen Geistes…

An diesem Tag lassen sie tief blicken, tiefer noch als die große Panoramascheibe hinter Kurt, die den Blick über die Weinberge bis hinauf zur Michaelskapelle freigibt. Seit neun Jahrzehnten ist Eichelberg, das seit Beginn der 70er Jahre zur Stadt Östringen gehört, Kurts Heimat. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er gewirkt, gelebt und erschaffen… Das ganze Haus zeugt von seiner unbändigen Schaffenskraft.. jeder Raum, jeder Winkel, jede Ecke spiegelt die vielfältigen Talente dieses Mannes wieder. Im Keller hängt eine ganze Wand voller Zertifikate, Qualifikationen und Auszeichnungen, die er in einer Eigenschaft als Funker gesammelt hat. Die restlichen Wände sind gesäumt von Gemälden, allesamt aus Kurts höchst eigener Feder. Da sind anmutige Akte, charismatische Gesichter, Landschaften, Gebäude und so viele Motive mehr, allesamt inspiriert durch ein langes, langes Leben und unzählige Begegnungen. Nicht minder beeindruckend sind die Schnitzereien, filigran und detailverliebt. In Holz gehauene Gesichtszüge für die Ewigkeit, nicht weniger charismatisch als die ihres Schöpfers selbst.

Das Herzstück und der Höhepunkt von Kurt Emmerichs Lebenswerk bildet aber eine Reihe von Büchern, die er komplett selbst geschrieben und auch selbst illustriert hat. Sie handeln von zu Hause, von der Heimat, jenem Fleckchen Erde auf dem Kurt geboren, in den Wirren des Krieges herangewachsen und von einem jungen zu einem alten Mann wurde. Sie enthalten persönliche Erfahrungen, Begegnungen und darüber hinaus so viele wertvolle, historische Details, die sie für jeden Historiker zu einem unermesslich kostbaren Schatz machen. Über Jahre hinweg hat Kurt Emmerich recherchiert, getippt, gezeichnet und all sein Herzblut in dieses, sein Vermächtnis investiert.

Seine größte Sorge ist, das dieses Vermächtnis ohne Nachhall verschwindet, ohne jede Würdigung unter die Räder des kollektiven Vergessens gerät. Denn im selben Maße wie es für jeden Außenstehenden sofort ersichtlich ist, dass dieser Mann etwas Besonderes ist, über so viel Talent, Können und Wissen verfügt… so wenig genügt er sich selbst. “Wer und was ich bin, ist egal und das interessiert bestimmt keinen Menschen.” schreibt er mir im Nachgang unseres Interviews… Worte die mich traurig stimmen, die ich versuchen möchte, mit diesen Zeilen zu widerlegen.

Woraus das fehlende Vertrauen in sich selbst entspringt, lässt sich anhand von Kurts bewegter Biografie erahnen. Dazu müssen wir zurückgehen, ganz an den Anfang… in das kleine Dörfchen Eichelberg in den 30er Jahren. Es war ein einfaches Leben, ein hartes Leben, dass es damals in den Hügeln zu leben galt. Alles spielte sich im Dorf ab, schon die Geschehnisse wenige Kilometer weiter – geschweige denn das Weltgeschehen – waren für die Menschen in Eichelberg kaum von Belang. Kurt wuchs in der damaligen “Engen Gasse” in einfachen Verhältnissen auf. Schon als Kind musste er in Haus und Hof mit anpacken, zog die Rippen aus Tabakblättern um etwas Geld zum kärglichen Haushaltseinkommen beizusteuern. Im Winter war es so kalt in dem kleinen Haus, dass auf seinem Bett direkt unter den Biberschwanzziegeln im Dachgeschoss der Schnee liegen blieb. Kurts Vater war gelernter Küfer, seine Mutter zog zu Hause die Kinder groß. Eine seiner Schwestern starb bei ihrer Geburt, die andere ist 12 Jahre jünger als er und wohnt heute noch in der Nachbarschaft.

Als Kurt ein junger Bub war eröffnete seine Mutter Helene einen kleinen Lebensmittelladen im Haus der Familie. Hier gab es Gemischtwaren aller Art… Salz, Zucker, Öl und was es eben damals sonst noch brauchte. Während Kurt seine Mutter als intelligente und kluge Frau beschreibt, spricht er über sich selbst gar als “Dummkopf” und “Versager”, der in der Schule nichts zustande brachte. Wie er zu dieser Härte sich selbst gegenüber gelangte, lässt eine kleine Anekdote erahnen, die er mir erzählt. So kam er eines Tages mit seiner Schiefertafel aus der Volksschule nach Hause um stolz der Mutter zu zeigen, dass er seinen eigenen Namen schreiben konnte. Auf der kleinen Tafel stand in krakeligen Buchstaben das Wort “Kod”… so klang für Kurt der eigene Name eben, wenn er im Eichelberger Dialekt wiedergegeben wurde… Anstatt das eigene Kind zu loben, es auf den Arm zu nehmen und ihm einen stolzen Kuss auf die Backe zu geben, verfiel die Mutter aber in Schimpftiraden, wischte den Stolz des Jungen mit harschen Worten hinfort.. Ein Zeugnis der tiefschwarzen Pädagogik der Härte jener Zeit.

die Ortsmitte in Eichelberg – rechts das Schulhaus

Auch in der Schule erfährt der zarte und kreative Junge nur Härte, Maßregelung und Vorhaltungen. Der Lehrer, der sich im Grunde nichts anderes wünschte als als Soldat für das Vaterland den Heldentod zu sterben, bläute den Kindern weniger Wissen als Dogmatismus ein. “Ein deutscher Junge muss hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder sein” so die Maxime, zu deren Untermauerung auch Schläge an der Tagesordnung waren. “Die Schule war ein Graus für mich” erzählt Kurt und der Schmerz dieser Tage steht ihm auch noch heute, rund acht Jahrzehnte später ins Gesicht geschrieben.

Das Dritte Reich wirkte zu jener Zeit bis in den letzten Winkel des ländlichen Raumes hinein, der Krieg und seine Schrecken machten auch vor Eichelberg keinen Halt. Kurt und seine Klassenkameraden versteckten sich bei Fliegerangriffen in den Kellern, beobachteten wie Soldaten Artilleriegeschosse auf die amerikanischen Stellungen feuerten, sahen Tod, Leid und Elend. Besonders in Erinnerung ist Kurt ein Abend geblieben, an dem der Eichelberger Karl Ledermann nach Eintreten der Sperrstunde von den Soldaten auf der Straße ertappt wurde. So musste der kleine Junge aus seinem Versteck mit ansehen, wie der Mann in einen Hausflur geführt und dort mit der Pistole am Hinterkopf hingerichtet wurde. Viele dieser Begebenheiten hat Kurt später in seinen Büchern verarbeitet, die persönliche Erlebnisse mit leidenschaftlich und bis ins letzte Detail recherchierten, geschichtlichen Fakten verbinden.

Der kleine Laden und das Gasthaus „Zur Traube“

Mit dem Ende des Kriegs endete auch Kurts Schulzeit an der Eichelberger Volksschule. Fortan half er auf den Weinbergen der Familie mit, im neuen Laden sowie dem Gasthaus zur Traube, das die Familie zuvor 1938 erworben hatte. Später nahm er dann bei einem Lebensmittelgroßhändler in Heidelberg eine Stelle an, arbeitete dort als Hans Dampf in allen Gassen. Kurt schleppte Mehlsäcke, Kisten, bediente den Lastenfahrstuhl und die Sackkarren. Sein Fleiß wurde belohnt und Kurt erhielt eine Anstellung als Lagerist. Er fuhr jeden Morgen mit dem Entenköpfer zur Arbeit um am Ende des Monats 20 Mark Lohn zu erhalten… Ja, es waren andere Zeiten als jene die wir heute kennen. Als “Knochenarbeit” bezeichnet Kurt diese Tage, die Arbeit war erst dann zu Ende, wenn sie auch wirklich getan war.

Doch Kurt wollte mehr aus sich machen und begann mit 18 Jahren eine Ausbildung an der Handelsschule, wo er durch seine gesammelten Erfahrungen gleich in der dritten Klasse einsteigen konnte. Mit dem ihm eigenen Fleiß büffelte er Tag und Nacht und schaffte schließlich die Prüfungen zum Kaufmannsgehilfen. Anschließend half er in Karlsruhe in der damaligen Edeka-Zentrale dabei die Buchhaltung zu automatisieren, dies geschah damals mit der Hilfe von Zählwerken, Lochkarten und dem Intromaten.

Ja, Kurt war schon immer begeistert von Technik, vom Tüfteln und vom Basteln. So schulte er er später auf Elektroniker um, absolvierte die diesbezüglichen Prüfungen bei Schaub Lorenz in Pforzheim und arbeitete danach in deren Rastatter Werk. Schnell hatte er den Ruf weg, wirklich alles reparieren zu können…vom Haushaltsgerät bis zum Kofferradio.

Kurts zahlreiche Funker-Zertifikate und Urkunden

In dieser Zeit kehrte Kurt das erste Mal seinem Heimatdorf Eichelberg den Rücken – nicht weil er es wollte, sondern der Liebe und der damit einhergehenden Loyalität wegen. Eines Abends hatte er im benachbarten Hilsbach ein Mädchen kennengelernt, in das er sich sofort Hals über Kopf verliebte. Er und seine Annemarie kamen zusammen, wurden ein Paar, beschlossen zu heiraten. Eine Verbindung die bei Kurts Familie auf blanke Ablehnung stieß… so sehr dass das junge Ehepaar zunächst in Annemaries Elternhaus in Hilsbach einzog.

Mitte der 60er Jahre starb Kurts Mutter und ihm blieb nichts anderes übrig als in Eichelberg den mittlerweile zum kleinen Supermarkt weiter entwickelten Lebensmittelladen zu übernehmen. Das Gasthaus zur Traube schloss Kurt aber im selben Atemzug, die Arbeit dort hatte ihm nie viel Freude bereitet. Auch der Supermarkt florierte in einem kleinen Dorf mit wenigen 100 Seelen niemals wirklich, konnte sich immer nur mit knapper Not über Wasser halten.

Eichelberg vom Kapellenberg aus gesehen

Um seine Familie ernähren zu können, sucht Kurt sich also wieder eine einträglichere Arbeit und wurde am Bundeswehrstandort in Siegelsbach technischer Zeichner, während Annemarie im nun verpachteten Edeka-Laden in Eichelberg als Angestellte weiter arbeitete. Einige Jahre später war das kleine Geschäft durch ausbleibende Kundschaft und die Errichtung von großen Einkaufsmärkten im Umkreis derart in Schieflage geraten, dass es schließlich schließen musste.

Kurt und seine Annemarie leben aber immer noch hier, in ihrem Eichelberg, indem sie so viel gesehen, so viel erlebt haben. Noch immer steht Kurt jeden Morgen auf, um sich an die Arbeit zu machen, so wie er es sein ganzen Leben lang getan hat. So zeichnet, schnitzt, malt und schreibt er. Oft aus Lust und Leidenschaft, zuweilen aber auch als Getriebener auf der Suche nach jener Liebe, Bestätigung und Anerkennung, die er in den prägenden Jahren seiner Kindheit verdient und gebraucht hätte, aber niemals erfahren durfte. Es ist ein Schmerz, der weder den kleinen Jungen, noch den Erwachsenen und auch nicht den alten Mann jemals verlassen hat. Eine Störung in der Ordnung der Liebe, die einen Menschen für immer prägen kann… die Kurt Emmerich geprägt hat. ​​Ein Mensch der so begabt und brillant ist, dessen Tragik aber darin liegt diese Begabung, diese Brillianz nicht zu erkennen, sie gar zu verleugnen.

Lieber Kurt, ich zumindest für meinen Teil bin von deinem Können, deinem Talent und deiner Brillanz restlos überzeugt, werde sie immer und ewig in Ehren halten und Dich und unsere gemeinsamen Stunden niemals vergessen. Ich wünsche dir Frieden, die Möglichkeit loslassen zu können und von Herzen nur einen Moment lang das schöne Bild von dir selbst zu erleben, das jedem in Deinem Umfeld sofort offenbar wird.

Hochachtungsvoll

Stephan Gilliar

Sommer 2022

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5 Gedanken zu „Ein bewegtes Leben“

  1. Was für ein schöner Artikel über einen Menschen, der beeindruckt und den man wegen der liebevollen Darstellung im Artikel gerne kennen lernen und gern haben möchte, auch wenn er einem – so wie mir leider- unbekannt ist.

  2. Wirklich ein bewegender Artikel über einen sehr interessanten und allem Anschein nach vielfältig begabten Menschen.

  3. Ich kenne Kurt schon über 40 Jahre.
    Auch ich habe in Schätzen und Respekt.
    Ich versuche sein Erbe etwas in Erinnerung zu halten und habe seine Arbeiten zum großen Teil Digitalisiert.
    Wenn jemand Interesse hat kann sich bei mir melden.
    Lg

  4. Auch ich habe seit Jahren Kontakt zu Kurt ich habe ihm viel zu verdanken ich werde seine Taten die er für mich getan hat nie vergessen er war immer für mich da wenn ich einen Rat benötigte ich bin sicher er wird für seine selbstlosen Taten in der Ewigkeit belohnt werden das wünsche ich ihm von Herzen. Kurt bleibe uns noch viele Jahre mit der Annemarie erhalten.
    In Dankbarkeit

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