Dorfhelden

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Trotz Arbeit, Studium und ständiger Doppelbelastung halten Philipp und Marvin in Weiher die letzte echte Dorfkneipe mit Schweiß, Hingabe und Herzblut am Leben.

Eine Entschuldigung von Stephan Gilliar

Ein kalter und regnerischer Samstagabend im November. Neben der Motoball-Arena und gegenüber des gespenstisch verwaisten Hardtsees, durchbrechen tausende bunter Lichter das schon vor Stunden eingesetzte Dunkel der herannahenden Herbstnacht. Fröhliche Musik liegt in der Luft und das Stimmengewirr vieler Menschen. Wie viele Gäste sich unter den Zeltdächern rund um die “Schneckenschenke” in Weiher aufhalten, überrascht mich am Ende aber dann doch und das nachhaltig. Es sind hunderte, wirklich hunderte von Menschen, die hier zum Weihnachtsmarkt und zur anschließenden Party gekommen sind. Damit hätte ich nicht gerechnet – nicht einmal mit einem Bruchteil der Menge, durch die ich mich jetzt hin durchwühle, um die beiden Schneckenwirte zu finden. Es ist das zweite Mal, dass ich mit meiner Einschätzung, was die kleine Kneipe am Ortsrand von Weiher angeht, komplett falsch liege. Als Marvin und Philipp sie im Sommer 2021 nach dem traurigen Ende des vorherigen Pächters Aris übernahmen, war ich fest davon überzeugt, dass die beiden kein Jahr durchhalten werden. Schließlich wollten sie neben zwei Jobs in Vollzeit und in Marvins Fall sogar neben dem Studium eine Dorfkneipe betreiben, ein Unterfangen, das schon mit deutlich mehr Kapital und Zeit im Köcher häufig ein Himmelfahrtskommando ist. Ich selbst habe 2008 nur eine Ortschaft weiter eine Zeit lang eine Kneipe geschmissen und bin damit grandios gescheitert. Hätte ich also 2021 eine Wette platzieren müssen, so hätte ich gegen die beiden Weihermer Buben gewettet. Mea culpa Freunde, für diese Fehleinschätzung möchte ich mich heute in Form dieses Artikels entschuldigen.

Was tatsächlich seither geschehen ist, darf als einzige und lange Erfolgsgeschichte betrachtet werden. Marvin und Philipp haben sich reingekniet und das nicht zu knapp. Obwohl durch ihre Schneckenschenke, benannt nach dem Uznamen der Weiherer, die im Kleeblatt von Ubstadt-Weiher als Schnecken bekannt sind, so gut wie jede Sekunde ihrer Freizeit aufgefressen wird, ziehen beide Ihr Projekt und ihr Baby mit Liebe und Aufopferung groß. Nehmen sie allein das gestrige Fest, den gestrigen Schnecken Weihnachtsmarkt. Dafür mussten im strömenden Regen unzählige Lichterketten aufgehängt, Zelte organisiert und aufgebaut, Grillgut und Getränke eingekauft, Personal akquiriert und Helfer verpflichtet werden. All das immer unter dem großen Fragezeichen, ob die Menschen auch bei diesem scheußlichen Herbstwetter das Angebot wahrnehmen werden. Zu der Arbeit an den Votagen kommt natürlich jede Menge weitere langfristige Vorarbeit, insbesondere das Bewerben der Veranstaltung, das Klopfen und Trommeln, das Gewinnen von Unterstützern. Denn eines ist klar: Nur Marvin und Philipp allein hätten diese riesige Veranstaltung niemals selbst stemmen können. Doch in Weiher hält man noch zusammen und die Ortsvereine eilten zu Hilfe. Die Fußballer und die Weihermer Buwe halfen mit – Beim Aufbau, an der Theke oder am Grill.

Vermutlich wissen Sie um den Schatz, der hier in der Ubstadter Str. 29 zu finden ist. Eine neue Dorfkneipe, in der immer etwas geboten ist, in der Jung und Alt auch am Wochenende wieder eine Anlaufstelle haben, ohne auf das weitere Umland oder die Städte ausweichen zu müssen. Die Kultur der Dorfkneipen hat im Kraichgau derart gelitten, dass es kaum noch welche gibt. Leuchtfeuer wie die Ziegelhütte in Neibsheim, den Holzwurm in Huttenheim oder die Kleine Kneipe in Oberöwisheim sind regelrechte Exoten geworden. In vielen Dörfern und Gemeinden gibt es kaum noch etwas, das am Wochenende die Dörfler aufnehmen und willkommen heißen könnte. Auch Weiher bildete da bis zum Sommer 2021 keine Ausnahme. Der badische Hof in der Ortsmitte, wo man früher am Wochenende tanzen und feiern konnte, hat schon seit Jahren geschlossen – ein adäquater Ersatz ist seither nicht nachgerückt. Wenn man sich einmal vor Augen führt, wie viele dorfdiskotheken es früher im Hügelland gegeben hat, könnten einem die Augen tränen. In jedem Dorf, sei es auch noch so klein, gab es früher Kellerbars, Tanztennen und Bauerndissen ohne Ende. In Odenheim, in Eppingen, in Bretten oder Bruchsal konnten sie von der Schwelle eines solchen Etablissements problemlos auf die Schwelle des nächsten spucken, so dicht standen die Spaßtempel beieinander. Doch mit der zunehmenden Mobilität und dem Einzug der Stadtbahn kehrten die Dorfbewohner ihren Kneipen den Rücken und wendeten sich den nun erreichbaren Städten zu. Ein Entwicklung, die bisher angehalten hat, bei der ich aber zwischenzeitlich eine Trendumkehr zu beobachten glaube. Je komplizierter die Welt wird, je unüberschaubarer die Umstände um uns herum werden, desto mehr wenden wir uns wieder dem Kleinen, dem Überblickbaren, dem Vertrauten zu. Das sind unsere Dörfer, das ist unser Zuhause und das sind auch unsere Kneipen.

Philipp und Marvin haben für die Weiherer wieder einen solchen Ort geschaffen und die Menschen sind ihnen ganz offenbar dankbar dafür, nehmen das Angebot gerne an. Die beiden begnügen sich übrigens nicht nur damit, am Wochenende die Türe aufzusperren, die Musik anzuschalten und Bier und Kurze auszuschenken, sondern lassen sich ganz regelmäßig kleine und große Specials und Events einfallen. Wanderungen, Märkte, Live-Musik, DJs, Themenabende… in der Schneckenschenke ist immer etwas geboten. Philipp und Marvin haben es ernst gemeint, haben es durchgezogen und dafür gebührt ihnen Respekt. Wenn wir alten Säcke, zu denen ich mittlerweile zunehmend zähle, immer wieder den Jungen bewusst oder unbewusst unterstellen, den Arsch nicht mehr hochzubekommen, dann sind wir in diesem Fall aber sowas von daneben gelegen. Dafür ein dickes Sorry Jungs, kommt nicht wieder vor. Dafür mache ich mich selbst zur Schnecke.

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