Die Zirkus-Heuchler

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Von Splittern und Balken

von Philipp Martin

Der Zirkus ist einmal wieder in der Stadt. Vor langer Zeit wäre das eines der Highlights im kulturellen Kalender des ländlichen Kraichgau gewesen, heute zucken die meisten Menschen nur noch müde mit den Schultern, ist doch diese uralte Form der Unterhaltung schon längst im Prozess des Sterbens auf Raten gefangen. Unzählige Zirkusse haben die Zeichen der Zeit schon dahingerafft, manche von Ihnen blicken auf weit über 100 Jahre Tradition und viele Generationen in Familienbesitz zurück. Etwa 300 Zirkusse gibt es noch in Deutschland, wenn die Folgen der Corona-Krise erst einmal durchgeschlagen haben, dürften es wieder einige weniger werden.

Als wäre das alles nicht schwer genug, gibt es für die am Boden Liegenden dazu noch harte Tritte mit dem moralischen Stiefel. In dem Moment, in dem die Plakate und Schilder eines Zirkus an den Laternenmasten auftauchen, formieren sich zeitgleich im Netz die Rechtschaffenen hoch zu Pferde und warnen ihre Mitmenschen vor der Tyrannei des fahrenden, bunten Volkes. Pauschal greift dann der Grundsatz: Alle Zirkusse die noch Tiere mit sich führen, sind brutale Tierquäler, denen es das Handwerk zu legen gilt. Keine Verhandlung, kein Abwägen – das Urteil ist gefällt.

Keine Frage, die Diskussion ob der Sinnhaftigkeit von Tiernummern und der Haltung in Wagen und Käfigen ist absolut legitim und kann geführt werden – selbstredend sind diese Praktiken oft nicht artgerecht. Während beispielsweise Pferde schon längst domestiziert und an die Nähe zu Menschen gewöhnt sind, sieht die Sache bei Wildtieren natürlich gänzlich anders aus. Doch wie bei jeder anderen Diskussion auch, bestimmt eben nun einmal der Ton die Musik.

Dieser Ton ist nicht sachlich, sondern regelrecht hysterisch, aggressiv und zudem Ausdruck einer fast schon unerträglichen Heuchelei. Da richten Menschen den ausgestreckten Zeigefinger auf eine Handvoll Zirkusleute, während sie gleichzeitig in großem Stil gegen die eigenen, scheinheiligen Prinzipien verstoßen. Menschen die mit dem Kauf von Billigfleisch und Wurst im Supermarkt der Degradierung des Tieres zum wertlosen Objekt Vorschub leisten, dessen lebensverachtende Haltung und Transport begünstigen. Menschen die auf Kosten von Kindern in fernen Ausbeutungsbetrieben günstige Klamotten aus dem Wühltisch ziehen, Menschen deren ganzer Wohlstand letztendlich auf dem Leid anderer aufbaut.

Es ist leicht aus der Entfernung, von außen und aus der Anonymität heraus einen schnellen Schuldspruch zu fällen, doch diese Form der Blitz-Justiz in den sozialen Medien sieht nur die Schattenseite…. wie so oft. Dass hier Menschen und Tiere Seite an Seite leben, miteinander arbeiten, aufeinander angewiesen sind, schafft eine Nähe und eine Verbindung die nicht selbstverständlich ist. Ich habe im Laufe meiner vielen Jahre als Journalist viele Zirkusse besucht, durfte hinter die Kulissen schauen und habe nirgendwo Misshandlung erlebt. Viel mehr Wertschätzung, wenngleich – ja auch auf zu engem Raum.

Aber – verzeiht den religiösen Schlenker – was kümmert mich der Balken vor meinem eigenen Auge, wenn doch da der Splitter im Auge des Anderen steckt. Oder anders ausgedrückt: Was kümmert mich der Dreck vor meiner eigenen Haustür, wenn doch das pure Böse gerade am Stadtrand wieder seine Zelte aufschlägt.

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