Die Tage die bleiben

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Das neue Hospiz in der Bruchsaler Tunnelstraße bietet einen geschützten Rückzugsort für die letzten Momente des Lebens. 

von Stephan Gilliar

Bevor Sie anfangen, diese Zeilen zu lesen, halten Sie doch bitte einen Moment inne und schließen Sie kurz die Augen. Hören Sie in sich hinein, hören Sie wie ihr Herz schlägt, das Blut durch ihre Adern rauscht. Hören Sie die Geräusche um sie herum, vielleicht die Gespräche anderer Menschen, vielleicht das Rauschen des Windes in den Bäumen, vielleicht ein paar Vögel in deren Ästen. Es sind die Geräusche des Lebens – Zeugen, dass sie am Leben sind – jetzt und in diesem Moment!

Solche Momente der Achtsamkeit sind wertvoll, denn sie verbinden uns mit der Gegenwart, dem “Hier und Jetzt”, einem Zustand, den wir im Begriff sind, zu verlernen. In der Wahrnehmung so vieler Menschen liegen die erstrebenswerten Momente immer in der Zukunft. Das Wochenende, der Urlaub, der Ruhestand oder etwas näher..der Feierabend. Und während wir darauf warten, verstreicht die Zeit, wird die Gegenwart bedeutungslos, der einzige Moment, in dem wir doch jetzt wirklich und wahrhaft existieren. 

Eigentlich verrückt, wenn wir ehrlich darüber nachdenken. Wir tauschen jene Momente und Möglichkeiten, die uns jetzt sofort zu unserer Verfügung stehen, gegen eine eventuelle Zukunft, von der wir nicht wissen, ob sie uns jemals erreicht.  Sicher ist in diesem Leben nur eines und das ist der Tod. Wir glauben ihn immer in ferner Zukunft, als etwas, das uns heute nichts angeht. Wenn er uns dann aber Angesicht zu Angesicht gegenüber steht kommen wir nicht umhin uns all die Fragen zu stellen, die wir uns vielleicht besser dann gestellt hätten, als wir noch Zeit hatten.

Diese Gedanken sind die Quintessenz meines Interviews mit Katrin Friedrich. Sie ist Geschäftsführerin der Hospiz- und Palliativnetzwerk Arista gGmbH, einer vom bürgerschaftlichen Engagement getragenen Institution, die im vergangenen Herbst nun auch in Bruchsal ein Hospiz eröffnet hat. Ein Hospiz, abgeleitet vom lateinischen Wort für Herberge oder auch Gastfreundschaft, ist ein Ort, an dem Menschen ihre letzten Tage verbringen können, ein Ort an dem ihr unvermeidliches Sterben in Würde begleitet wird. Wer hier einzieht, ist im wahrsten Sinne des Wortes sterbenskrank, es gibt keine medizinische Heilung mehr für ihn, nur noch die Möglichkeit, die letzten Meter in diesem Leben so erträglich wie möglich zu gestalten. 

Im Schnitt verbringen ihre Patienten hier etwa drei Wochen, erzählt Katrin Friedrich, hadert aber dabei mit dem Wort „Patienten“. Die richtige Bezeichnung habe sie noch nicht gefunden, erzählt sie. “Patient” klingt zu sehr nach Krankenhaus, “Gast” zu sehr nach Hotel, die richtige Vokabel müsse erst noch gefunden werden. Doch egal wie man es auch nennen mag, die Menschen, die in Katrin Friedrichs Hospiz einziehen, wählen damit den Ort, an dem sie aus dem Leben scheiden werden. 

Doch auch wenn man es anders erwarten würde, ist das neue Hospiz in Bruchsal kein Ort der Tristesse und permanenter Trauer. Während wir miteinander reden, hört man aus dem Esszimmer munteres Geplauder, dazu zieht der Geruch gebratener Maultaschen mit Kartoffelsalat durch das Haus, das weder an ein Krankenhaus noch an ein Pflegeheim erinnert. Alles ist hell, gerade zu lichtdurchflutet gestaltet. Warme Farben, gemütliche Polster, viel Glas, Pflanzen und das alles vor der heimeligen Kulisse  der Bruchsaler Altstadt. In den insgesamt acht Zimmern steht zwar je ein Pflegebett und auch das Badezimmer ist barrierefrei gestaltet, ansonsten sehen die Räumlichkeiten aber alle sehr gemütlich und ansprechend aus. Jeder Patient oder Gast, oder wie auch immer man die vorübergehenden Bewohner der Tunnelstraße Nummer 10 auch nennen möchte, kann seinen Raum dabei so gestalten, wie er es für stimmig hält, wie es für ihn am besten passt. 

Das ganze Haus ist offen und mit vielen Freiflächen und kleinen Rückzugsorten gestaltet, niemand soll hier allein, Kontakt überall und jederzeit möglich sein. Es gibt einen Raum der Stille und ein kleines Wohnzimmer mit einem schillernd blauen Meerwasser-Aquarium, in dem bunte und exotische Fische schwimmen. Das ganze Hospiz strahlt eine Ruhe und eine gelassene Erhabenheit aus, das spürt man tatsächlich sofort. Was jedoch gänzlich fehlt ist das “Schicksalsschwere”, das “Dunkle” und das “Getragene”, also all die Attribute, die wir instinktiv einem solchen Ort zuordnen würden.

Auch Katrin Friedrich entspricht nicht dem Bild, dass man von der Geschäftsführerin einer solchen Einrichtung vor dem geistigen Auge hat. Die 37-jährige strahlt eine unbeschwerte Fröhlichkeit aus, läuft auf Chucks mit riesigen Plateausohlen durchs Haus, während ihr lange Dreadlocks über die Schultern fallen. Unter der Unterlippe glänzt ein kleines goldenes Piercing. Zum Tod hat die gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin ein entspanntes Verhältnis, ist damit quasi aufgewachsen, wie sie mir erzählt. Ihre Kindheit in Pforzheim hat sie gegenüber dem Friedhof verbracht, dort mit ihren Freunden gespielt und viele viele Beerdigungen miterlebt. Als sie 20 war, begleitete sie das Sterben ihrer an Krebs erkrankten Großmutter, rückte ihr eine Woche lang nicht von der Seite. Eine wertvolle Erfahrung, wie sie erzählt, die ihr eine ganz neue Perspektive auf den Tod eröffnete. Nach ihrer Zeit in einer Pforzheimer Klinik studierte sie zusätzlich zur Ausbildung schließlich BWL, arbeitete danach zuerst in einem ambulanten Pflegedienst, später in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, kurz SAPV.

Sie hat viele Menschen getroffen, die sich erst auf den letzten Metern ihres Lebens mit dem Thema Tod beschäftigt haben, hat dabei gelernt, dass so viele nicht über den Tod reden können oder wollen, ihn nicht selten vollständig verdrängen… bis er sich eben nicht mehr verdrängen lässt. “Es ist eine meiner Missionen im Leben, darüber aufzuklären”, sagt Katrin Friedrich und meint damit wohl nicht nur das Sterben, sondern auch das Leben, das diesem vorausgeht. Für sie ergibt es keinen Sinn, sich erst im Angesicht des Todes die Träume zu erfüllen, die man im Leben bisher immer vor sich her geschoben hat – oft ist das dann auch gar nicht mehr möglich. Dennoch betrachtet sie es als ihre Aufgabe, das Leben in diesen letzten Tagen noch einmal so schön zu machen, wie es möglich ist, die Voraussetzung zu schaffen, diese letzten Momente zu genießen – so schwierig sich dieses Unterfangen auch anhört. 

Genau darum geht es aber bei der Arbeit im Hospiz. Hier geht es längst nicht mehr darum, Krankheiten zu kurieren oder das Leben zu verlängern, sondern eine möglichst friedliche Zeit vor dem eigenen Ende zu erleben. Erlaubt ist hier selbstredend alles. “Manche Patienten umgeben sich gerne mit Familie und Freunden, fast alle freuen sich über gutes Essen”. Da kann es auch jeden Tag Sahnetorte geben, egal ob man Diabetiker ist… So seltsam es klingt, darauf kommt es einfach nicht mehr an. Rauchen, Alkohol, Cannabis…wer es mag, warum bitte nicht? Auch Medikamente dienen im Hospiz nur einem einzigen Zweck… den Schluss so erträglich wie möglich zu gestalten. Niemand muss doch grundlos Schmerzen leiden, dafür gibt es Schmerzmittel oder Opiate. Die braucht es auch oft, denn die Tumorerkrankungen, an denen die Mehrheit der Patienten im Hospiz sterben, können teilweise gnadenlos in ihren Ausprägungen werden. Alles was man in die Waagschale werfen kann, um es diesen Menschen erträglich zu machen, wird hier auch aufgeboten. 

Um einen Platz im Hospiz zu erhalten, gibt es konkrete Voraussetzungen zu erfüllen, erklärt Katrin Friedrich. In erster Linie, dass der Patient an einer Erkrankung leidet, die fortschreitend verläuft und bei der Heilung ausgeschlossen ist. Wir reden dabei nicht von Krankheiten, die irgendwann in den nächsten Jahren zum Tode führen könnten, sondern auf denen die Ziellinie bereits mehr oder minder in Reichweite scheint. Im Allgemeinen wird darauf hingearbeitet, zu Hause sterben zu können, doch nicht immer ist das eine Option. Sie kann sich noch gut an einen 40-jährigen Familienvater erinnern, erzählt Katrin Friedrich, dessen Familie kaum zuzumuten wäre, den schleichenden Tod des Ehemanns und Vaters während des unvermeidlich stattfindenden Alltag miterleben zu müssen. In diesem Fall ist ein behüteter Ort wie das Hospiz die weitaus bessere Lösung. 

Natürlich muss ein entsprechender Platz auch frei sein, in Bruchsal beispielsweise sind derzeit nur vier von acht Plätzen belegt, was aber mit dem noch fehlenden Personal zusammenhängt. Derzeit sucht Arista noch ausgebildetes Pflegepersonal, eine Suche, die sich eingedenk des psychisch fordernden Arbeitsumfeldes nicht immer leicht gestaltet. Um ihre Crew kümmert sich Katrin Friedrich aber so gut sie kann, mit viel Supervision und einem großzügig bemessenen Personalschlüssel, der auch Freiräume und Pausen ermöglichen soll. “Viele sind immerhin in die Pflege gegangen, um Menschen beim Gesunden zu helfen, nicht beim Sterben zu begleiten”.

Sicher, es ist ein schwerer Job, aber auch ein unermeßlich wichtiger. Die Arbeit im Hospiz wird jedoch nicht nur durch die hauptamtlichen, sondern auch durch die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getragen. Hier ist jeder eingeladen, sich zu engagieren, seinen Teil beizutragen. Auch Spenden sind für die Arbeit des Hospiz unermesslich wichtig, ein Teil des Budgets speist sich ausschließlich aus freiwilligen Zuwendungen, ohne die die Arbeit kaum möglich wäre. Weitere Informationen zu den Möglichkeiten der Mithilfe, sowohl der persönlichen, als auch der finanziellen, gibt es auf der Webseite von Arista.

Das Hospiz ist ein Ort des Kommens und des Gehens, ein Ort des Abschieds. Der Tod ist hier regelmäßiger Gast, er kommt dabei oft in Wellen, wie Katrin Friedrich beobachtet hat. Manchmal passiert tagelang nichts, dann gehen mehrere Patienten innerhalb weniger Stunden. Wenn das Ende kommt, kündigt es sich meist an. Pflegerinnen und Pfleger kennen die ersten Vorboten des Todes nur zu gut. In der letzten Phase werden die Menschen sehr blass, vor allem um den Mund und die Nase – auch “Dreieck des Todes” genannt. Wem die Schmerzen am Schluss zu viel werden, kann die “palliative Sedierung” in Betracht ziehen, eine so starke Betäubung, dass die letzten Momente nicht bei Bewusstsein erlebt werden müssen. “Die letzten Momente sind nicht immer schön” weiß Katrin Friedrich nur zu gut, hat es bei ihrer eigenen Großmutter erlebt, deren Tumor im Rachenbereich zum Schluss aufbrach. 

Doch hier kann die Palliativmedizin helfen, dem Ende den Schrecken etwas zu nehmen, auch das gehört zur Aufgabe eines Hospiz. Wenn der Sterbende dann schließlich gegangen ist, wird im Eingangsbereich eine Kerze für ihn angezündet, der Seele quasi der letzte Weg geleuchtet. Die Angehörigen können ihre Gedanken und Wünsche in ein Buch daneben eintragen – ein schönes, ein würdevolles Ritual. 

Es liegt vielleicht in der Natur von uns Menschen, dem eigenen Tod zu Lebzeiten nicht ins Auge blicken zu wollen, doch es ist, wie es ist: Alles was geboren wird, wird auch irgendwann wieder sterben. Ob man nun hinsehen will oder nicht – es wird geschehen.. mir, Ihnen, uns allen. Wir können nichts dagegen tun, aber eines doch sehr wohl: Das Heute leben, das Heute feiern, denn was morgen ist, das weiß niemand. 

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2 Gedanken zu „Die Tage die bleiben“

  1. Vielen Dank für den einfühlsam geschriebenen Artikel. Es ist wichtig, dass es solche Orte mit lieben Menschen gibt.

  2. Ich bin froh, dass es Menschen gibt, die in solchen Situationen für den Menschen da sind, der die Hilfe und Unterstützung in diesem letzten Lebensabschnitt benötigt. Auch die Familie, Freunde und Angehörige brauchen Hilfe in dieser Lebensphase.

    Es ist kein Beruf, den man nach Feierabend einfach ablegt.

    Man kann nicht genug Danke sagen.
    ❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️
    Mein Respekt und ich ziehe den Hut. Ich wünsche den begleiteten Menschen und natürlich auch allen Betroffenen ganz viel Kraft.

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